Das Sonnentau-Kind
haben uns eine fleischfressende Pflanze angeschaut.»
«Fleischfressende Pflanze?», lachte Axel Sanders unwillkürlich auf.
Doch die Kinder nickten ernst. «Sonnentau», wusste der Junge. «So hieß das Ding.»
«Ihr habt ja ein tolles Namensgedächtnis. Und der Freund von Aurel, wisst ihr noch, wie der hieß?» Wenckes Aufmerksamkeit schien wieder zu erwachen.
«Ja, der hieß Jakob.»
«Das ist der Kerl, mit dem Anivia unterwegs ist», schob Wencke dazwischen.
«Der Typ war irgendwie komisch.»
Wencke horchte auf. «Ach? Und wieso war er komisch?»
«Na ja, bei unserem Spaziergang …»
«Ja?» Wenckes Stimme überschlug sich kurz. Sie war schrecklich nervös.
«Der Jakob hat uns auch vom Wurzelkobold erzählt. Du weißt doch, von dem Zwerg, der in den Baumstümpfen lebt. Ich hab dir doch vorhin das Bild gezeigt, das meine Mama gezeichnet hat. Und der Jakob hatte genau so eins auch dabei. Er hat gesagt, sein Vater habe das gemalt, aber jetzt sei sein Vater tot.»
Das Mädchen mischte sich jetzt ebenfalls ein: «Dann hat er uns dauernd so doofe Fragen gestellt.»
«Doofe Fragen?»
«Er wollte wissen, wie sie aussieht. Da habe ich ihm ein Foto von Mama gezeigt.» Henrike klappte ihr Portemonnaie auf und zeigte ein Porträt ihrer Mutter, es war dasselbe, welches auf den Werbeplakaten abgebildet war.
«Der Typ hat meiner Schwester das Bild aus der Hand gerissen und angestarrt. Und dann war er so komisch. Alles wollte er wissen: Was sie macht. Ob wir ihre richtigen Kinder sind. Voll neugierig.»
«Er hat uns gefragt, ob unsere Mama aus Osnabrück kommt, und wir haben ja gesagt.»
Die Kinder überschlugen sich fast beim Erzählen. «Er wollte wissen, wie unsere Mama hieß, bevor sie geheiratet hat, und wir haben gesagt: Isselmeer. Da ist er noch aufgeregter gewesen.»
«Und warum hat er sich aufgeregt?»
«Er hat gesagt, er hätte früher als kleiner Junge auch mal Isselmeer geheißen. Als ich ihn dann gefragt habe, ob wir vielleicht verwandt sind, hat er ganz komisch gelacht. Ich fand ihn gruselig!»
«Was wollte er noch wissen?»
«Ob sie krank ist.»
«Er hat euch gefragt, ob eure Mutter krank ist?»
«Ja», bestätigte der Junge. «Wir haben ihm dann von den Operationen erzählt. Aber nun ist ja alles gut, und Mama braucht nicht mehr dahin. Es ist alles fertig, haben meine Eltern gesagt.»
«Wisst ihr denn, was die Mama hatte?»
«Och, nichts Schlimmes. Immer was anderes. Mal was am Hals, an der Brust, mal was im Gesicht. Die Knochen haben sie abgesägt und umgesetzt. Wie bei einem Puzzle, wenn die Teile nicht passen, hat Mama gesagt. Dann schnippelt man sich die Stücke eben neu zurecht, und irgendwann ist das ganze Bild fertig.»
«Das ganze Bild fertig …», murmelte Wencke, dann zog sie langsam das Faltblatt aus ihrer Jackentasche, in dem die Moordorfer Skulpturenausstellung beworben wurde. «Gestaltenwechsel–Wechselgestalten …»
Axel Sanders konnte dem Gespräch und Wenckes bruchstückhaftem Monolog nicht ganz folgen. Ihm war klar, dass Wencke ihm wieder einen Schritt voraus war. Ihr Talent, zwischen den Zeilen zu lesen und für den Fall zu verwerten, würde für ihn immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.
Er zupfte sie am T-Shirt. «Kommst du mal mit raus?»
Wencke nickte ernst.
Als sie sich ein paar Schritte vom Wagen entfernt hatten, wandte sie sich ihm zu. «Ich glaub, ich weiß, was los ist.»
«Das will ich hoffen. Ich kann ja verstehen, dass du dir Sorgen um Anivia und Emil machst, aber was du eben in Erfahrung gebracht haben willst, hat sich mir nicht erschlossen. Was haben die Operationen der Annegret Helliger mit diesem Lager zu tun, nach dem wir hier eigentlich suchen?»
«Das weiß ich auch nicht. Vielleicht gar nichts. Aber was wäre, wenn Annegret Helliger und der Vater von diesem Jakob ein und dieselbe Person sind?»
«Wie bitte?»
«Hast du Annegret Helliger mal kennengelernt? Sie ist groß, kräftig, hat eine tiefe Stimme …»
«Du meinst, sie ist ein Mann?»
«Zumindest war sie mal einer. Ich gebe zu, ich dachte auch, man würde so etwas auf den ersten Blick erkennen. Aber die ganzen Operationen, von denen die Kinder sprachen … Ich kann mir vorstellen, dass man im Falle einer Geschlechtsumwandlung heute ganz viel unternehmen kann, damit es nicht sofort auffällt.»
«Annegret Helliger soll transsexuell sein?»
«Transgender nennt man das heutzutage, Axel. Das Phänomen hat nichts mit einer sexuellen Orientierung zu tun, laut Wissenschaft liegt
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