Das Sonnentau-Kind
nochmal aus dem Funkloch, wir brauchen nämlich noch sämtliche Personalien über Annegret Helliger.»
«Apropos Personalien», fiel es Britzke ein. «Greven hat den Namen von Annegret Helligers Verabredung herausgefunden. Er arbeitet im Naturhaus. Sein Name ist …»
«Jakob Isselmeer!», kannte Wencke die Antwort.
«Woher wisst ihr das schon?», fragte Britzke erstaunt. «Er nannte ihr nämlich den Namen Mangold – unter dem er hier bekannt ist und den er von seinem Stiefvater bekam –, aber der Name seines Vaters ist tatsächlich Isselmeer.» Britzke verstand die Welt nicht mehr, und Sanders konnte es ihm nicht verübeln, wer war schon in der Lage, Wenckes Gedankengängen so schnell zu folgen. Britzke schaute ihn fragend an.
«Auf geht’s, Britzke, du hast doch gehört, was die Chefin gesagt hat!» Dann drehte er sich um. «Also los, Wencke», sagte Sanders. Doch sie war bereits vor ihm.
Auf der Flucht immer weiter weg
Ich renne.
Mein Herz rast, und meine Augen tränen. Gräser zerschneiden die Haut an meinen Beinen. Es ist meine einzige Chance. Ich weiß, sie denken, ich habe diese Frau umgebracht, darum musste ich flüchten. Ich habe keine Ahnung, was sie in Deutschland mit zweifachen Mördern machen, aber ich bin mir sicher, sie gehen nicht zimperlich mit solchen Verbrechern um. Besonders wenn man illegal im Land ist und niemand davon weiß, dass es einen gibt.
Ich hab es nicht getan.
Ich habe mich doch auch gewundert, warum diese fremde Frau mich so nett begrüßt hat. Dann merkte sie schnell, dass sie mich verwechselt hatte. Sie konnte ein bisschen Rumänisch. Als ich ihr erzählte, ich sei wegen Aurel und Ladislaus gekommen, hat sie mich in diese Hütte geführt. Sie müsse mit mir reden, hat sie gesagt, und obwohl ich normalerweise keine engen Räume betrete, die dunkel und merkwürdig sind und aus denen es nur einen Fluchtweg gibt; obwohl ich sowieso nie mit fremden Menschen irgendwo hineingehen würde, wenn ich nicht unbedingt müsste, ich bin ihr gefolgt. Sie wusste etwas über Aurel und meinen Bruder. Sie war nett. Ich dachte, sie kann mit den Kinderdieben nichts zu tun haben. Eigentlich bin ich nie so unvorsichtig.
Wir setzten uns auf das Strohbett. Doch bevor sie reden konnte, hörten wir eine Stimme. Draußen rief jemand ihren Namen.
«Einen Moment bitte. Ich bin eigentlich verabredet. Aber das kann warten», erklärte sie in gebrochenem Rumänisch.
Sie ging nach draußen. Ich hörte sie reden. Erst ganz freundlich, dann irgendwie erschreckt. Die Männerstimme erwiderte etwas. Es war kein richtiger Streit, es hörte sich eher an, als erteile der andere Befehle, denen sie zu folgen hatte. Mir war klar, das musste ein Polizist sein, die suchten vielleicht schon nach mir, die sind mir auf die Schliche gekommen, haben mich beobachtet. Als ich merkte, dass sie sich der Hütte näherten, versteckte ich mich im Stroh.
Es war kein Polizist, dazu war er zu jung und zu wild. Ich bin mir sicher, er war verrückt. Er fuchtelte mit einem Zettel herum, hielt ihn der Frau unter die Nase. Sie lachte und weinte gleichzeitig, es war so seltsam. Sie versuchte, ihn zu umarmen, obwohl sie Angst vor ihm zu haben schien. Er stieß sie von sich, sie prallte gegen einen Holzpfeiler. Ich habe nichts verstanden, doch diese fremden Worte hatten die Kraft von Geschossen; was immer er ihr sagte, sie ging in die Knie, als sei sie getroffen worden.
Dann begann sie zu reden. Schnell und ohne Luft zu holen. Er unterbrach sie kaum, ich glaube, er wollte ihr zuhören und gleichzeitig die Ohren vor dem verschließen, was sie ihm zu sagen versuchte. Er starrte sie an, seine Augen waren schrecklich kalt. Ich habe nicht oft solchen Abscheu gesehen. Ich konnte es nicht verstehen. Sie war so freundlich, sie redete leise, manchmal nahm der Klang ihrer Stimme einen liebevollen Ton an, als wolle sie ihn trösten oder um Verzeihung bitten. Ich weiß nicht, warum er auf einmal zum Knüppel griff. Es geschah so plötzlich, ich habe es gar nicht richtig gesehen, weil ich doch mein Gesicht verborgen hielt. Er schlug zu. Immer wieder, auch noch, als sie schon am Boden lag. Ich habe ihn nicht dabei beobachtet, doch ich bin mir sicher, er hat sich dabei wohlgefühlt. Er war so merkwürdig still, während er sie schlug. Kurz dachte ich, sie spielen mir hier nur ein Theater vor, aus welchem Grund auch immer. Aber das Blut war echt. Das Krachen der Schädelknochen auch. Und dann war es plötzlich noch stiller als still, er ließ dieses
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