Das Sonnentau-Kind
eine Geschlechtsidentifikationsstörung zugrunde, und es ist gar nicht so selten.»
Die letzten Sätze passten eher zu Meint «Lexikon» Britzke als zu Wencke Tydmers, außerdem fand Axel Sanders, zu viel Wissenschaft hielt sie in diesem Moment unnötig auf. Er kam lieber zurück auf den eigentlichen Punkt: «Sie war ein Mann?»
«Zumindest körperlich, ja. Warum nicht? Der dicke Hausmeister, der in der Rechtsmedizin Dienst schiebt, war früher auch mal eine Frau, wusstest du das nicht?»
«Nein.»
«Es würde zu so vielem passen. Die Kinder sind adoptiert, Sebastian Helliger sagte, seine Frau könne nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen, und im Grund genommen stimmt das ja auch. Und der Name stimmt ebenfalls. Dieser seltsame Jakob hieß als kleiner Junge mit Nachnamen Isselmeer. Annegret Heiligers Geburtsname lautet genauso …»
«Wencke …»
«Axel, hör mir wenigstens mal zu! Sie beschäftigt sich mit diesem Thema, ihre ganzen Arbeiten erzählen von Umwandlungen, von Veränderungen. Und ihre Hände … mir ist das gleich aufgefallen, als ich Annegret Helliger das erste Mal gesehen habe, sie hat unglaublich kräftige Hände …»
«Und du meinst, in ganz Moordorf hat nicht ein Mensch gemerkt, was Sache ist? Ich bitte dich, Wencke …» Axel Sanders hätte gern bei ihr angeklopft, sich in ihre Gedankengänge eingemischt. Doch seine Argumente nahm sie anscheinend nur am Rande wahr.
«Ich habe mal etwas über einen berühmten Jazzmusiker gelesen, Billy Tippton war sein Name. Er wurde fast achtzig Jahre alt, war fünfmal verheiratet, hatte vier adoptierte Kinder, und erst nach seinem Tod hat der Arzt den völlig überraschten Familienangehörigen erzählt, dass er eigentlich eine Frau ist. Es ist ein Gerücht, dass Männer, die sich als Frauen fühlen, unbedingt falsche Wimpern, grelle Perücken und High Heels tragen. Warum sollten sie sich nicht ganz unauffällig und natürlich geben, so wie du und ich?»
«Ich bin aber hundertprozentig ein Mann, um das mal klarzustellen», versuchte Sanders einen Witz, den Wencke natürlich geflissentlich überhörte.
«Die Heiligers haben zurückgezogen auf ihrem Hof gelebt. Die Frau ist Künstlerin und den Menschen wahrscheinlich ohnehin schon suspekt. Sie boten den Leuten einfach keine Gelegenheit, sich ihnen zu nähern.»
«Das große Familiengeheimnis …», sagte Axel ironisch.
Doch Wencke ignorierte seinen Spott. «Vielleicht wollte Annegret Helliger gar nicht sich selbst und ihre Familie schützen, sondern jemand anderen.»
«Jemand anderen?»
«Die Menschen, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengelebt hat, als sie noch ein anderer war …»
«Du meinst …»
«Vielleicht ist sie wirklich der Vater von diesem Jakob, der bislang daran geglaubt hatte, Halbwaise zu sein. Was für ein Gefühl es für den Jungen gewesen sein muss …»
«Ich kann dir nicht folgen.»
«Die Kinder haben gesagt, diese merkwürdige Skizze und das Foto von Annegret Helliger hätten Jakob irgendwie wütend gemacht. Was ist, wenn er die Tat im Museum begangen hat? Die Helliger war mit einem jungen Mann verabredet … das könnte er gewesen sein. Und dann packt ihn die Wut, der Frust, was auch immer, er nimmt diesen Knüppel und …»
«… und spaziert dann seelenruhig davon? Ich bitte dich!»
«Vielleicht war der Angriff für ihn eine Erleichterung, eine Beruhigung. Für ihn war die Welt wieder im Gleichgewicht, nachdem er Annegret Helliger tot glaubte. So konnte er unauffällig verschwinden. Im Museum war viel los an dem Tag, vielleicht ist Jakob sogar mir über den Weg gelaufen, ohne dass ich Notiz von ihm genommen habe. Für ihn war der Vater tot, seit Jahren schon, nach seinem Ermessen war alles in Ordnung.»
«An den Haaren herbeigezogen», konnte sich Axel Sanders einen Kommentar nicht verkneifen. Die Geschichte, die Wencke da aus dem Hut zauberte, übertraf an Hirnverbranntheit alles bisher im Laufe ihrer Zusammenarbeit von Wencke Zusammengereimte. Er weigerte sich, an eine solche Story zu glauben und sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Leuchtete es Wencke denn nicht ein, dass sie ihre Zeit verschwendeten?
Er fasste sie am Oberarm, als wollte er sie aufwecken. «Wencke, es hat nichts mit Aurel Pasat, mit den verschleppten Rumänenkindern, es hat mit überhaupt gar nichts zu tun.»
Endlich reagierte sie, schaute ihn an, verzog den Mund. «Vielleicht hast du recht.»
Sie holte tief Luft, und er dachte eigentlich, sie sei wieder zur Vernunft gekommen. Doch
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