Das Sonnentau-Kind
verschluckt, immer leiser werdend, als Wencke wieder stand, kam es ihr fast vor, als wäre er nie da gewesen. Und doch war ihr klar, Sanders hatte recht, diese Schrecksekunde hätte auch ihre letzte sein können.
Sanders umarmte sie von hinten. Sein schneller Atem kitzelte sie.
«Du verrückte Heldin», sagte er leise.
Nur ganz kurz standen sie so da, nicht viel länger als der Moment eben auf dem Weg. Dann rannten sie weiter. Vielleicht waren sie noch nicht zu spät und fanden dort hinten etwas.
Sanders war vor ihr. «Wenn wir Glück haben und die Kollegen sind schnell genug, dann fährt er unseren Leuten direkt in die Arme. Und dann hat dieser Moorkönig endgültig ausgespielt!»
«Das war nicht Helliger am Steuer. Ich glaube, ich habe den Hausmeister erkannt.» Wencke bekam einen Schlag ins Gesicht. Wie ein ausgestreckter Arm hatte ein Ast den Weg versperrt. Sie schrie kurz auf.
«Was ist, Wencke?»
«Egal, renn weiter, Axel, renn weiter!»
Sie passierten noch einige mannshohe Büsche, dann lichtete sich das Gestrüpp, der Weg wurde breiter, wie aus dem Nichts befanden sie sich auf einmal in einer schattigen, fast waldähnlichen Schonung.
Da war es, das Holzhaus, beinahe identisch mit dem, in dem Wencke vor drei Tagen die Leiche von Aurel Pasat betrachtet hatte. Nur weniger verfallen, weniger verlassen. Dieses Lager schien in gutem Zustand zu sein. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Bäume hindurch auf das Dach, in dem man keine undichten Stellen ausmachen konnte. Sollte das der Ort sein, vor dem ihr graute? Etwas Schilf am anderen Ende, Goldregen und Flieder wuchsen wie in einem Vorgarten, so hübsch, dass es wehtat.
Es war still. Und leer. Sie waren zu spät gekommen. Nichts bewegte sich.
Noch nicht einmal Sebastian Helliger, der im Eingang stand, die Hände wie immer in den Taschen. Ohne ein gastfreundliches Lächeln diesmal. Aber immer noch mit einem Gesicht, dem man nicht zutrauen mochte, dass es ihm soeben allem Anschein nach gelungen war, in letzter Sekunde ein Kinderlager zu räumen.
Ihm war weder Genugtuung noch Panik anzusehen. Er strahlte noch immer diese Gelassenheit eines Menschen aus, der sich sicher war, nichts verbrochen zu haben.
Sollte Wencke sich dermaßen täuschen?
War er nicht ein Menschenhändler? Wärter eines Gefangenenlagers? Wahrscheinlich auch ein kaltblütiger Mörder?
Wie konnte er dann nur so unschuldig wirken?
Die Schritte, mit denen er ihnen entgegenkam, waren langsam. Er blickte zu Boden. Erst als er direkt vor ihnen stand, erhob er den Kopf.
«Wohin haben Sie die Kinder gebracht?», fragte Sanders atemlos. «Sie Arschloch, glauben Sie nicht, dass es Ihnen gelingen wird, auf diese Weise den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Unsere Leute sind auf dem direkten Weg hierher. Sie werden Ihren Transporter schon zu stoppen wissen. Und dann …» Sanders hatte sich kaum noch im Griff. Wencke hielt ihn am Arm fest und spürte, dass seine Muskeln bis aufs äußerste gespannt waren. Er würde Helliger am liebsten an den Hals gehen, dachte sie. Und sie konnte ihn verstehen.
«Und dann?», hakte der Moorkönig in gelassenem Ton nach. «Was glauben Sie, was dann passiert?»
«Dann werden wir diesen armen Kindern ihre Freiheit zurückgeben.»
Sebastian Helliger schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf.
«Warum grinsen Sie so widerlich?» Sanders spuckte bei jeder Silbe vor Wut.
«Ich habe auch einmal so hier gestanden», antwortete Helliger schlicht und nach wie vor seelenruhig. «Genau wie Sie. Ich war empört, außer mir. Als ich dahinterkam, dass mein Verwalter die Hilfstransporte nach Rumänien nutzte, um auf dem Rückweg Bettelkinder nach Deutschland zu schmuggeln, da war ich so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben, das müssen Sie mir glauben.»
Jetzt konnte auch Wencke nicht mehr stumm bleiben. «Und dann haben Sie erkannt, dass sich damit eine Menge Geld verdienen lässt, mehr als mit Komposthaufen zumindest, und sind mit eingestiegen? Meinen Sie, dass macht Sie irgendwie besser?»
Helliger schaute sie an wie ein gütiger Lehrer, der einer begriffsstutzigen Schülerin zum x-ten Mal das Einmaleins erklärt. «Aber nein. Sie verstehen nicht. Natürlich war meine erste Reaktion, die ganze Sache auffliegen zu lassen. Ich hätte diesen Mann am liebsten standrechtlich erschießen lassen.» Er hob die Arme in hilfloser Geste. «Aber was wäre dann geschehen? Überlegen Sie doch mal. Gut, mit ihm hätte ich einen Drahtzieher dieser Horde an den Galgen gekriegt. Er
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