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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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speckigen Finger auf die Tiere und sagte: «Da! Muh!» Er schien die Situation inzwischen als wenig bedrohlich zu empfinden. Ein kleiner Querfeldeinspaziergang mit seinem neuen Babysitter.
    Jakobs Rad lag neben dem Auto, mit dem Anivia gekommen war. Ihm kam eine Idee, natürlich, auf diese Weise würde er Zeit sparen, und Minuten waren für ihn gerade die härteste Währung. Das Auto der Kommissarin.
    Er brauchte nicht lange in der verschnörkelten Handtasche zu wühlen. Zwischen Nagelpfeile und Feuerzeug lag der Schlüssel.
    Mit dem umständlichen Kindersitz kam er nicht zurecht, und die Zeit, das Prinzip der verschiedenen Bänder und Schnallen zu durchschauen, hatte er nicht. Also setzte er den Knirps einfach neben sich.
    Er blinzelte ihn möglichst freundschaftlich an. «Darfst mal vorne fahren, toll, oder?» Und drückte aufs Gaspedal.

In Wenckes Kopf rasend
    Kinder. Alles voller Kinder. Speichel läuft aus den Mundwinkeln. Die Augen verdrehen sich derart, dass nur noch das Weiße zu sehen ist. Krallenförmige Hände umfassen die Fesseln. Die Haut ist an den Liegestellen wund gescheuert, so dünn wie Butterbrotpapier, rissig und teilweise mit Schorf übersät. Und dieses Schreien, dieses Brüllen und Heulen. Nach der Mutter, immer nach der Mutter.
    Wencke hatte Angst vor dem Bild, das sie erwarten könnte. Sie hatte Angst vor dem Anblick durchgelegener Pritschen, dreistöckig, schmutzig, doch die einzige Behausung. Es gab diese Berichte, was hatte sie nicht alles schon gesehen vom Elend der Welt. In den Zeitschriften hatte sie weitergeblättert, im Fernsehen das Programm gewechselt, wenn es nicht zu ertragen gewesen war. In ihrem Job hatte sie irgendwie auf Durchzug gestellt, nicht viel war hängen geblieben von den Toten ihres Lebens. Sie hatte sich immer herausgewunden, es war Wencke immer gelungen, sich von allem einigermaßen zu befreien.
    Aber jetzt war es anders. Sie näherten sich der Stelle, die Meint Britzke ihnen genannt hatte. Den Wagen hatten sie inzwischen stehen gelassen, sie wollten niemanden aufschrecken. Seit einem halben Kilometer schlichen Axel Sanders und sie durch das Moor. Und sie wussten, sie würden gleich etwas zu sehen bekommen, was sich nicht abstreifen, nicht umblättern und nicht wegzappen ließ. Und trotzdem rannten sie weiter. Gleich würden die Kollegen hier auftauchen. Sanders hatte eine ganze Kompanie bestellt. Es war ihm ernst. Er hatte begriffen, dass er die ganze Zeit danebengelegen hatte. Und jetzt fasste er Wenckes Hand, vielleicht, weil er ihre Angst spürte, vielleicht, weil er seine eigene in den Griff kriegen wollte. Es war klar, sie würde ihm verzeihen. Sie würde ihn nicht in die Pfanne hauen, weil er es erst vermasselt hatte. Jetzt war er hier, an ihrer Seite, und das zählte.
    Ein Brummen. Hatten sie dieses Geräusch nicht auch vorhin wahrgenommen, als sie noch auf dem Grasstück geparkt hatten?
    «Das ist ein Lkw, scheint sich festgefahren zu haben», flüsterte Sanders.
    Einige Male jaulte etwas auf, ein gequältes Motorendröhnen, als wenn die Räder durchdrehen. Noch zwei, drei Versuche, wie Sirenengeheule.
    «Helliger räumt das Lager. Wir müssen da sein!»
    Der Befreiungsversuch des Wagens schien geklappt zu haben, der Motor klang nun anders, Gänge wurden eingelegt, hochgefahren, das Geräusch wurde lauter, immer lauter.
    «Der kommt auf uns zu!», schrie Sanders. «Und zwar in einem Affenzahn!»
    So schnell wie ein angriffslustiges Dschungeltier näherte sich zwischen den Bäumen der Riesenwagen.
    «Wir müssen ihn stoppen!», rief Wencke und stellte sich mit ausgebreiteten Armen auf den Weg.
    «Bist du wahnsinnig?» Sanders starrte sie an, nur wenige Sekunden. Denn dann war der Lastwagen direkt vor ihnen. «Spring! Verdammt nochmal, Wencke, spring!»
    Sanders hechtete auf sie zu und riss sie mit sich, beide stoben nach rechts in die Brennnesseln, er fiel über sie, drückte sie nieder. Das Dröhnen direkt neben ihnen war ohrenbetäubend.
    «Der hätte dich platt gefahren wie einen dieser armen Igel auf der B 72», schimpfte Sanders, als man wieder ein Wort verstehen konnte. «Du bist die unvernünftigste Person, die mir je untergekommen ist.»
    «Dann geh doch einfach runter von mir. Du zerquetscht mich sonst, dann wäre dein Einsatz doch für die Katz gewesen.»
    Als sie sich wieder sortiert hatten, die Schmerzen lokalisiert waren und das Brennen des Unkrauts zu wüten begann, war der Lkw schon längst zwischen den Bäumen hinter ihnen verschwunden. Wie

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