Das Sonnentau-Kind
Gaunertrick anwenden und seine Spur verwischen, indem er gleich mehrere verschiedene Tickets löste und auch zum Flug nach London, Paris und Rom eincheckte. Hauptsache, er gewann Zeit. Und wenn es ihm all das Ersparte kostete. Das tat nicht wirklich weh. Schließlich war es ohnehin ein Glücksfall für ihn gewesen, dass er hier am Großen Meer auf diese bequeme Einnahmequelle gestoßen war.
Dafür würde er Aurel immer dankbar sein. Dass er ihn so naiv und unschuldig auf die Spur von Helliger und seinen Leuten gebracht hatte. Damals hatte Jakob noch nicht geahnt, dass er auf diese Weise geschäftlich mit der neuen Familie seines Vaters zu tun hatte. Doch Helliger wäre ohnehin nie dahintergekommen, der Name Mangold, der als Empfänger auf den Überweisungsträgern stand, würde ihm sicher nicht bekannt sein. Und alles nur wegen Aurel.
«Weißt du was von einem Lager? Du kennst dich doch hier in der Gegend aus. Kann es sein, dass hier Bettelkinder versteckt werden?» So hatte der fremde Radfahrer ihn gelöchert. Und Jakob war gleich der Schuppen hinten im Schilf eingefallen. Er hatte die große Holzhütte unter den hohen Bäumen stets nur von weitem gesehen, sie lag nicht auf der Route, die er bei seinen Führungen machte, lag auch nicht in einem der interessanteren Vogelbrutgebiete. Das Lager lag im Prinzip mitten im Nirgendwo.
«Nein, das kann ich mir nicht vorstellen», hatte er Aurel geantwortet. Und war dann selbst an einem frühen Morgen dorthin unterwegs gewesen. Gerade als die Kinder zur Arbeit abgeholt wurden. Nicht einen Gedanken hatte er daran verschwendet, hier einzugreifen oder die Polizei zu benachrichtigen. Ihm war gleich die Alternative zum Reden eingefallen: das bezahlte Schweigen. Und als am späten Abend dieser Mann, den alle Holländer nannten, zurückkam, mit zwei geistig Behinderten im Schlepptau, da hatte er ihn am verstachelten Zauntor begrüßt. Und ihm seine Diskretion und seine Kooperation in Sachen Aurel angeboten. Für zehntausend Euro. Vorerst.
Es hätte mehr werden können, wenn dieser Aurel nicht so ein verdammt moralischer Scheißkerl gewesen wäre. Jakob hätte Monat für Monat eine kleine Summe Schutzgeld kassieren und sich damit seine Zukunft ganz weit weg von allem hier finanzieren können. Aber Aurel hatte darauf bestanden, die Sache auffliegen zu lassen, sobald er einige Sachen geklärt hatte. Auch wenn es den Kindern hier vielleicht besser ging als jemals zuvor in ihrem Leben. Gut, sie mussten dafür arbeiten, mussten ihre Gebrechen in irgendeiner größeren norddeutschen Stadt zur Schau stellen, mussten auch mal stundenlang im Regen herumsitzen, aber dann gab es auch am meisten Mitleid, ergo am meisten Kleingeld in der Büchse. Und das viele Geld kam doch letztlich auch ihnen zugute und den vielen anderen Kindern, die von der Organisation aus ihrem Elend freigekauft und nach Deutschland geholt wurden. Es war eine vernünftige Sache. Alles, was der Moorkönig machte, war vernünftig. Doch gutes Zureden, freundschaftliche Überzeugungskraft – es hatte alles nichts genutzt, Aurel Pasat wollte die Kinder aus dem Lager wieder mit nach Rumänien nehmen. Er habe es dort jemandem versprochen. Jemandem, der ihm wichtig sei. Seiner Familie.
Dieser Idiot. Natürlich hatte Jakob das getan, wofür er bezahlt worden war: Er hatte die Pläne seines rumänischen «Freundes» verraten. Sebastian Helliger hatte seine Familie auf die Insel geschickt. Holländer hatte dafür gesorgt, dass Aurel an diesem Tag nur eine halbe Portion an Kraft und Kampfgeist war. Sie wollten das Lager räumen, alle Beweise vernichten, damit Aurels Aussage wie ein Hirngespinst, wie die kranke Phantasie eines unglücklichen Au-pair-Jungen aussah. Von Mord hatte eigentlich keiner gesprochen. Das war nicht Heiligers Gebiet. Denn der Moorkönig hatte in diesem Spiel nie wirklich wie ein Verbrecher gedacht und gehandelt. Na klar, Aurel musste mundtot gemacht werden bis zu seiner Abreise. Aber tot – auf keinen Fall.
Was war schiefgelaufen? Warum hatte es so enden müssen, in diesem anderen Lager, ganz in der Nähe des Heiliger-Hofes?
Nur Jakob kannte die Antwort. Aber er hatte keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht, wenn er dort war, wo er hinwollte, vielleicht würde er da einmal einen Gedanken daran verschwenden, warum es ihm nicht gereicht hatte, Aurel einfach nur verschwinden zu lassen.
Er trat aus dem Wald. Die Kühe standen wieder am Gatter und glotzten. Der Junge zeigte mit seinem
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