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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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trottete widerwillig hinterher. Das Scheunentor war weit geöffnet. Sie gingen hindurch.
    Wencke kamen wieder die Bilder in den Sinn. Die Pritschen, das abgestoßene Chromagangeschirr, der pampige Brei im Teller. Doch sie sah etwas ganz anderes. Etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte, was aber alles zu erklären schien.
    Die Wände waren mit kunterbunten Tapeten beklebt, Bordüren mit Teddybären säumten die niedrigen Wände, dasselbe Muster kehrte auf den Vorhängen wieder. Die Möbel waren neu, hatten lustige Formen, kleine Tische wie aus einem Comicfilm, dazu die Stühle, es fehlten nur noch Schneewittchen und die sieben Zwerge. Auf dem Boden lag rotes und gelbes Linoleum in breiten Streifen. Man sah, dass einige Kinder vor kurzem aus dem Spiel gerissen worden waren. Kleine Spielfiguren, Piraten und Indianer kreuz und quer, waren in einer Ecke aufgestellt worden. Aus einem anderen Raum hörte man Musik tönen. Biene Maja, von Karel Gott, so fröhlich und süß.
    «Es ist hübsch», sagte Wencke. Und sie merkte es erst, als der Satz bereits ausgesprochen war.
    «Nicht wahr?», sagte Sebastian Helliger. Er hatte die Hände wieder in den Taschen vergraben, und ein dünnes Lächeln wagte sich auf seine Lippen.
    «Ein wirklich hübsches Kindergefängnis», ergänzte Wencke und ging zum Fenster. Der hohe Zaun und der Stacheldraht dort draußen waren nicht zu übersehen. Sie ließ sich nicht täuschen von ein paar bunten Tapeten. Dennoch war sie bereit, sich Helligers Geschichte anzuhören. Es musste einen Grund geben, dass er einen so seltsamen Ort geschaffen hatte, hier, mitten in Ostfriesland.
    «Ich bin erst eine ganze Zeit später hinter diese Sache gekommen. In den letzten Jahren war bei uns viel los. Die Kinder und meine Frau … Ich nehme an, Sie wissen inzwischen, was mit meiner Frau …»
    «Sie wurde als Andreas Isselmeer geboren …», wagte Wencke ihre Vermutung als Tatsache zu formulieren.
    «Ja, als wir uns in Osnabrück kennenlernten, hatte sie sich gerade von ihrer Familie getrennt und die ersten Hormontabletten verschrieben bekommen. Für mich war sie immer eine Frau, das stand nie infrage, aber zu Beginn unserer Beziehung war sie noch voller Angst vor den Schritten, die ihr bevorstanden. Aber wir haben es gemeinsam geschafft, zwölf Jahre lang, immer ein bisschen weiter in Richtung Glück. Und bald, so hoffe ich, bald ist Annegret endlich in ihrem Körper zu Hause. Ich würde alles dafür tun.»
    «Sie haben bereits alles dafür getan, ist es nicht so? Ihr gesamtes Vermögen haben Sie in diese Sache investiert.»
    «Nun, die Kasse hat nicht alles übernommen. Ein Prinzip kann ich hinter den Entscheidungen nicht erkennen, wenn man zwar die Amputation bezahlt, aber die Gestaltung einer weiblichen Brust als unnötig abtut. Barthaarepilierung ja, Adamsapfel verkleinern nein. Aber ich will Sie damit nicht belasten, es ist auch eine Geschichte, die eigentlich nicht hierher gehört. Sie war nur lange Zeit der Dreh- und Angelpunkt in unserer Familie. Und darum war ich froh, dass mein Verwalter die Hilfstransporte und sämtliche Arbeiten an unseren Lagerschuppen übernahm. Bis ich, mehr durch Zufall, nach Jahren mal wieder hier zum Großen Meer kam und entdeckte, dass Menschen in diesem Schuppen hausten. Kinder, gehütet wie eine Herde von einem rumänischen Wachmann und einem Rudel bissiger Hunde. Es war eine Katastrophe. Die Kinder waren alle krank, sie vegetierten in dunklen Verschlägen vor sich hin, sie waren hungrig und voller Schmutz. Ich war verzweifelt. Dieses Elend auf meinem Hof.»
    «Das war ihr einziges Problem? Dass sich die Sache auf Ihrem Grundstück abspielte?»
    «Nein, es ging um viel, viel mehr. Wenn an die Öffentlichkeit gekommen wäre, was hier geschehen ist, dann wäre alles aus gewesen. Dann wäre der Name der völlig unbeteiligten Prim ặvarặ ebenso in den Dreck gezogen worden wie der meiner Familie. Die Sache mit meiner Frau wäre in der Presse breitgetreten worden, Henrike und Thorben wären als rumänische Adoptivkinder nicht verschont geblieben von Mutmaßungen und Spekulationen. Und wofür? Für eine Handvoll Ganoven, die im Knast gelandet, wobei die wahren Täter beim organisierten Verbrechen ohnehin ungeschoren davongekommen wären. Für ein gänzlich unbekanntes Schicksal der Kinder, die man zurückgeschickt hätte, sobald sie kräftig genug gewesen wären. Hätte ich alles aufs Spiel setzen sollen?»
    Sebastian Helliger schwieg lange. Die Musik aus dem Nebenzimmer war

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