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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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das heißt, unsere Entscheidungen und den Lauf unseres Lebens letztlich bewusst kontrollieren; doch leider hat diese Wahrnehmung mehr mit unseren Wünschen – mit unserem hehren Selbstbild – als mit der Wirklichkeit zu tun.« 13
    Verhaltensökonomen behaupten, dass einzelne Intuitionen wie etwa das Gerechtigkeitsempfinden mächtige ökonomische Effekte haben. Lohn- und Gehaltstarife werden nicht nur danach festgelegt, was der Markt hergibt. Menschen fordern ein Gehalt, das ihnen angemessen erscheint, und Manager müssen diese moralischen Intuitionen berücksichtigen, wenn sie Lohn- und Gehaltstarife festsetzen.
    Verhaltensökonomen möchten herausfinden, wie das Verhalten wirklicher Menschen vom rationalen Ideal abweicht. Es gibt den Druck der Bezugsgruppe, überzogenen Optimismus, Faulheit und Selbsttäuschung. Konsumenten zahlen manchmal extra für verlängerte Garantiefristen, wenn sie Haushaltsgeräte kaufen, obwohl diese Garantien die Kosten praktisch nie rechtfertigen. Mitarbeiter des Gesundheitsamts von New York glaubten, wenn sie Fast-Food-Restaurants dazu verpflichteten, auf der Speisetafel für jedes Gericht den Kaloriengehalt anzugeben, würde dies die Kunden dazu veranlassen, sich gesünder zu ernähren. 14 Tatsächlich aber bestellten die Gäste etwas kalorienreichere Gerichte als vor dem Inkrafttreten der Verordnung.
    Klassische Ökonomen gehen in der Regel von der Annahme aus, Volkswirtschaften strebten nach einem Gleichgewichtszustand. Verhaltensökonomen hingegen analysieren, wie Veränderungen der irrationalen Faktoren im Wirtschaftsleben – Zuversicht, Vertrauen, Angst und Gier – zu Spekulationsblasen, Börsenkrächen und globalen Krisen führen können. Wenn die Väter der klassischen Wirtschaftstheorie gewusst hätten, was wir heute über die inneren Funktionsmechanismen des menschlichen Gehirns wissen, hätten sie ihre Disziplin niemals so strukturiert, behaupten einige Verhaltensökonomen.
    Die Verhaltensökonomie kam einer Erklärung der Wirklichkeit, wie sie Erica Tag für Tag in ihrem Umfeld erlebte, viel näher. Sie erkannte auch sofort, dass ihr diese Disziplin eine Möglichkeit bot, um die verborgenen mentalen Prozesse in einer Sprache zu beschreiben, die Betriebswirten in Unternehmen in ganz Amerika vertraut ist.
    Tief in ihrem Innern teilte Erica den Ansatz der Verhaltensökonomen nicht. Für sie kamen Kulturen an erster Stelle. Sie betrachtete die Gesellschaft als ein organisches Gebilde, als einen komplexen Verbund von lebendigen Beziehungen. Die Verhaltensökonomen mochten das Verhalten betrachten, aber sie waren nach wie vor Ökonomen. Das heißt, sie räumten Komplexitäten und Fehler ein, die die klassischen Vertreter ihrer Disziplin ignorierten, aber auch sie behaupteten weiterhin, menschliche Fehler seien vorhersagbar, systemisch und könnten mit mathematischen Formeln erfasst werden. Erica vermutete, dass sie nicht mit offenen Karten spielten. Wenn sie zugeben würden, dass das Verhalten keinen Gesetzen folgte – dass es so unvorhersehbar war, dass man es nicht in mathematischen Formeln und Modellen erfassen konnte –, wären sie keine Ökonomen mehr. Sie würden nicht mehr in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht oder zu Fachkonferenzen eingeladen werden. Sie müssten ihre Büros in die Fachbereiche für Psychologie verlegen, was in der akademischen Hackordnung ein großer Schritt zurück wäre.
    Doch so wie die Verhaltensökonomen ihre Gründe hatten, so zu tun, als wären sie nach wie vor strenge, objektive Wissenschaftler, profitierte auch Erica von diesem Image. Ihre Klienten hatten großen Respekt vor der Wissenschaft. Auch sie hatten gelernt, die Gesellschaft als einen Mechanismus zu betrachten. Wenn sie ihre Einstellung bis zu einem gewissen Grad übernehmen musste, um sie dazu zu bewegen, ihr zuzuhören, dann würde sie dies tun.
    Erica beschloss, ihre Unternehmensberatung nicht auf der kulturellen Segmentierung aufzubauen, für die der Markt offensichtlich noch nicht bereit war, sondern auf der so angesagten Verhaltensökonomik, die überall gefragt war.
    Heuristiken
    Erica las die Werke der bedeutendsten Verhaltensökonomen. Jeder Entscheidung, so schrieben sie, liege eine sogenannte Entscheidungsarchitektur zugrunde, eine unbewusste Gesamtheit von Strukturen, die helfe, die Entscheidung vorzubereiten. Diese Entscheidungsarchitektur hat oftmals die Form von Heuristiken. Das Gehirn speichert bestimmte »Wenn-dann-Faustregeln«, die

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