Das soziale Tier
ein Unternehmen, das eine technische Dienstleistung erbringt, tatsächlich zu einem Unternehmen passt, das künstlerische Inhalte produziert, verschwendete er keinen Gedanken.
Weitere Akquisitionen folgten – ein Biotech-Unternehmen, ein Online-Haushaltsgerätegeschäft. Erica beobachtete ihre Kollegen dabei, wie die Übernahme anderer Firmen zu einer regelrechten Sucht für sie wurde. Nach jedem Ankauf zirkulierte eine triumphierende innerbetriebliche Mitteilung in der Vorstandsetage. Dieser Deal »erlaubt uns, unsere Reichweite zu verdoppeln … unser Unternehmen zu transformieren … Mit einem einzigen Schachzug definieren wir das Geschäft neu … Das ändert die Spielregeln von Grund auf … Wir haben jetzt einen Marktrenner, der eine neue Ära einläuten wird … Heute erleben wir den Beginn einer neuen Epoche.« Jede Übernahme sollte das Wundermittel sein, das das Unternehmen aus seiner Schieflage herausholte, doch Wochen und Monate später war die Talfahrt noch immer nicht gestoppt, nur der Schuldenberg wuchs weiter.
So wie alles Neue poliert wurde, wurde alles Alte ausgepresst. Langjährige Zulieferer wurden unter Druck gesetzt, die Anzahl der Subunternehmer wurde verringert, alten Mitarbeitern wurde gesagt, sie sollten für weniger Geld mehr leisten. Eine Rettungsboot-Mentalität begann sich im Unternehmen auszubreiten – Monat für Monat wurden die Schwächsten über Bord geworfen, und die Überlebenden klammerten sich umso fester ans Dollbord. Die Arbeitsmoral litt. Die Kundenbindung sank drastisch. Bei neuen Hiobsbotschaften wurde nach den Verantwortlichen gesucht, aber aus irgendeinem Grund konnte die Verantwortung nie klar zugeordnet werden. Jede Entscheidung wurde von mehreren Gremien abgesegnet. Wenn jeder verantwortlich war, war niemand verantwortlich.
Erica beobachtete das Debakel mit zorniger Empörung. Sie hatte dem mehr oder minder unvermeidlichen Niedergang ihres eigenen Unternehmens standgehalten. Jetzt würde sie Teil eines der schlimmsten Management-Versagen in der Geschichte des Kapitalismus werden. Wer würde sie danach noch einstellen?
Monat für Monat wurden die Zahlen noch schlechter. Eines Tages saß sie in einer Besprechung, in der neue Umsatzdaten bekannt gegeben wurden. »Das kann nicht stimmen«, antwortete einer von Taggerts Kriechern. Erica hörte einen spontanen Laut des Unmuts aus dem hinteren Bereich des Raumes. Sonst schien es niemand zu bemerken, doch als es die Höflichkeit zuließ, drehte Erica ihren Kopf nach hinten, um nachzusehen, wer dieses Geräusch gemacht hatte. Es war ein älterer Typ mit Hängebacken und weißem Haar, der ein kurzärmeliges weißes Hemd und eine rot-blau gestreifte Krawatte trug. Sie hatte diesen Mann bei vielen größeren Besprechungen gesehen, aber sie hatte ihn nie etwas sagen gehört. Sie starrte ihn an. Er hatte die Augen niedergeschlagen und betrachtete seine fleischigen Hände. Dann sah er auf, und ihre Blicke trafen sich. Er grinste, und sie wandte sich ab.
Nach der Besprechung folgte sie ihm durch den Flur und holte ihn schließlich ein. »Was haben Sie vorhin gedacht?«, wagte sie ihn zu fragen. Er sah sie argwöhnisch an.
»Jämmerlich«, flüsterte sie schließlich.
»Verdammt jämmerlich. Unglaublich verdammt jämmerlich«, antwortete er.
Und so wurde die »Operation Walküre« geboren.
Der Mann hieß Raymond. Er arbeitete seit 32 Jahren in der Firma. Sie konnten ihn nicht loswerden, weil sich niemand so gut wie er in der Technologie auskannte, aber sie hatten ihn auf eine Stelle abgeschoben, wo er nichts mit Entscheidungsprozessen zu tun hatte und schließlich das Durcheinander, das andere angerichtet hatten, aufräumte. Durch ihn erfuhr Erica, dass andere im Unternehmen genauso verärgert waren wie sie – viele andere, um genau zu sein. Sie gründeten einen verschworenen Bund Andersdenkender. Sie benutzten ihre privaten E-Mail-Adressen, um ein Samisdat-Netzwerk aufzubauen. Zuerst meckerten und jammerten sie nur, doch dann fingen sie an zu planen. Erica überzeugte sie davon, dass diese Operation eine Frage des Überlebens sei. Wenn das Unternehmen unterging, würden auch sie alles verlieren. Wenn das Unternehmen unterging, würde eine Institution, die sie ihr Leben lang mit aufgebaut hatten, verschwinden. Sie würden doch da nicht einfach die Hände in den Schoß legen und tatenlos zusehen, wie sie das Schicksal ereilte. Sie müssten etwas unternehmen.
Kapitel 15 Metis
Erica war in zunehmendem Maße entsetzt über
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