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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Beispiel den »neuen Sowjetmenschen« erschaffen. Le Corbusier und eine Generation von Stadtplanern versuchten Städte in rationelle Maschinen zu verwandeln – Verkehrsfabriken –, indem sie bestehende Stadtviertel niederrissen und sie durch mehrspurige Schnellstraßen und symmetrische Wohnungsbauprojekte ersetzten, die von den älteren Stadtzentren abgeschnitten waren. Technokraten aus Wohlstandsländern versuchten überall in der Dritten Welt ohne Rücksichtnahme auf die örtlichen Besonderheiten groß angelegte Entwicklungsprojekte umzusetzen. Finanzanalysten in den Großbanken und den Notenbanken meinten, sie könnten die Konjunkturzyklen beherrschen und eine Great Moderation – eine Abschwächung der konjunkturellen Schwankungsanfälligkeit – erreichen.
    Kurzum, wir verdanken der rationalistischen Methode viele bedeutende Entdeckungen, aber wenn man sie dazu benutzt, die menschliche Gesellschaft zu erklären oder zu organisieren, stellt man fest, dass sie an unüberwindliche Grenzen stößt. Sie konzentriert sich stark auf Denkprozesse – das, was man die »zweite Stufe der Kognition« nennen könnte –, die man beobachten, quantifizieren, formalisieren und klar beschreiben kann. Dagegen ist sie blind für den Einfluss des Unbewussten – die »erste Stufe der Kognition« –, das wolkenförmig, nichtlinear, schwer zu beobachten und nicht formalisierbar ist. Rationalisten neigen dazu, sämtliche Informationen, die sich nicht mit Hilfe ihrer Methoden berechnen lassen, auszusortieren oder in ihrer Bedeutung herunterzuspielen.
    Lionel Trilling diagnostizierte das Problem in seinem Essayband The Liberal Imagination, wo er schrieb, dass Politik oder Wirtschaft, solange sie sich »um stärkere Organisation bemüht, dazu neigt, Emotionen und Eigenschaften auszuwählen, die sich am leichtesten organisieren lassen. Wenn sie ihre aktiven und positiven Zwecke ausführt, beschränkt sie unbewusst ihre Sicht der Welt auf das, was sie bewältigen kann, und sie neigt unbewusst dazu, insbesondere in Bezug auf die Natur des menschlichen Geistes, Theorien und Grundsätze zu entwickeln, die ihre Beschränkungen rechtfertigen.« 22 Die Folge ist eine tendenzielle »Verleugnung von Emotionen und Fantasie. Und allein um ihr Vertrauen in die Macht des Geistes zu bekräftigen, neigt diese Anschauung dazu, einer engen, mechanistischen Konzeption des Geistes zu folgen.«
    Der Rationalismus befasst sich nur mit dem bewussten Denken, und er unterstellt, dass es sonst nichts gibt. Er kann die Bedeutung unbewusster Prozesse nicht einräumen, denn sobald er seinen Fuß in diesen dunklen und unergründlichen Strom taucht, muss er alle Hoffnung auf Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit fahren lassen. Rationalisten verdanken ihr Ansehen und ihre Autorität der Tatsache, dass sie vorgeblich in der Lage sind, das menschliche Verhalten wissenschaftlich zu erklären.
    Dieser Szientismus hat sich in den letzten 50 Jahren am stärksten in der Volkswirtschaftslehre manifestiert. Die Nationalökonomie war zu Beginn noch keine rein rationalistische Disziplin. Adam Smith ging davon aus, die Menschen würden von moralischen Empfindungen und dem Wunsch angetrieben, die Bewunderung anderer zu erregen und zu verdienen. Thorstein Veblen, Joseph Schumpeter und Friedrich Hayek drückten sich in Wörtern, nicht in Formeln aus. Sie betonten, dass ökonomische Aktivitäten immer in einem Umfeld großer Ungewissheit stattfänden. Unsere Handlungen wären ebenso sehr von der Einbildungskraft wie von der Vernunft gesteuert. Menschen können jähe Paradigmenwechsel erleben, sodass sie dieselbe Situation plötzlich völlig anders sehen. John Maynard Keynes behauptete, die Volkswirtschaftslehre sei eine moralische Wissenschaft und die Wirklichkeit lasse sich nicht in allgemeingültigen, mathematisch berechenbaren Gesetzen erfassen. Die Volkswirtschaftslehre, schrieb er, »befasst sich mit Introspektion und mit Werten … sie befasst sich mit Motiven, Erwartungen und psychologischen Ungewissheiten. Man musste sich fortwährend davor hüten, das Material als konstant und homogen zu behandeln.« 23
    Im Verlauf des 20. Jahrhunderts aber gewann der Geist des Rationalismus die Oberhand in den Wirtschaftswissenschaften. Physiker und andere Naturwissenschaftler erzielten großartige Erfolge, und Sozialwissenschaftler eiferten ihrer Stringenz und ihrem Prestige nach. Der einflussreiche Ökonom Irving Fisher wählte sich einen Physiker als Betreuer seiner Doktorarbeit und

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