Das soziale Tier
Taggert und seine Speichellecker. Manchmal, wenn sie spätabends nach Hause kam, machte sie ihrem Unmut Harold gegenüber Luft. Mit konkreten beruflichen Tipps konnte er ihr nicht helfen – im Lauf der Jahre hatte er sich immer weiter von der Geschäftswelt entfernt –, aber er versuchte, ihr eine neue Sicht auf ihre Probleme zu vermitteln.
Harold hatte sich bei der Historical Society mittlerweile bequem eingerichtet. Zunächst hatte er die Katalogtexte für die Ausstellungen geschrieben, war dann aber zum Kurator befördert worden und half jetzt, Ausstellungen zu organisieren. Die Historical Society war eine verschlafene, altehrwürdige Institution, die im 19. Jahrhundert gegründet worden war und in deren Lagerräumen zahllose Artefakte aufbewahrt wurden. Er verbrachte seine Mußestunden im Kellergeschoss, wo er alte Kisten und Ordner durchforstete. Manchmal ging er auch in den Tresorraum, in dem die wertvollsten Stücke der Society lagerten.
Am kostbarsten war das Kleid, das eine Schauspielerin am Tag von Lincolns Ermordung im Ford’s Theatre getragen hatte. Unmittelbar nach dem Mordanschlag war sie in die Loge des Präsidenten geeilt und hatte Lincolns Kopf in ihren Schoß gelegt, während andere versuchten, seine Wunde zu versorgen. Das Kleid hatte ein schrilles Blumenmuster und war über und über mit Lincolns Blut befleckt.
Eines Tages, bald nach seiner Anstellung, war Harold allein ins Kellergeschoss gegangen, streifte sich weiße Handschuhe über und zog das Kleid behutsam aus seiner Schachtel. Er legte es sanft über seinen Schoß. Das Gefühl der Ehrfurcht, das ihn in diesem Moment überkam, lässt sich nur schwer beschreiben. Der Historiker Johan Huizinga trifft es vielleicht am besten: »Ein Gefühl der unmittelbaren Berührung mit der Vergangenheit ist eine Empfindung, die so tief ist wie der reinste Kunstgenuss; es ist ein beinahe ekstatisches Gefühl, nicht länger man selbst zu sein, in die Welt um einen herum überzufließen, das Wesen der Dinge zu berühren oder durch die Geschichte die Wahrheit zu erleben.« 1
Wenn er sich in seine Artefakte vertiefte, hatte Harold das Gefühl, in eine andere Epoche einzutauchen. Je länger er bei der Society arbeitete, umso stärker versenkte er sich in die Vergangenheit. Wenn er eine Ausstellung über eine bestimmte Epoche organisierte – etwa das Viktorianische Zeitalter, die Amerikanische Revolution oder eine noch länger zurückliegende Zeit –, erstand er bei Ebay kleine Drucke, Zeitungen und Nippsachen aus dieser Zeit. Er hielt sie in seinen Händen und stellte sich die Hände vor, die sie gehalten hatten. Er betrachtete sie durch ein Vergrößerungsglas und versuchte, die Jahrhunderte zu überwinden.
Zur Arbeit zu gehen, das war für ihn so, als würde er sich in ein untergegangenes Zeitalter zurückversetzen. Abgesehen von seinem Laptop und seinen Büchern gab es dort nichts, was zu Harolds Lebzeiten hergestellt worden war – das Mobiliar, die Federhalter, die Stiche, die Büsten und die Teppiche. Harold hätte nicht in einem kriegerischen oder aristokratischen Zeitalter leben wollen, aber er war tief bewegt von den alten Idealen – dem Ehrbegriff der alten Griechen, der mittelalterlichen Ritterlichkeit, dem viktorianischen Ehrenkodex eines Gentlemans.
Im Anschluss an eine Ausstellung fiel einem Verleger Harolds Ausstellungskatalog auf, und er bat ihn daraufhin, ein Buch über Samuel F. B. Morse zu schreiben. Von da an publizierte Harold im Abstand von zwei Jahren regelmäßig Geschichtsbücher und Biografien, die sich recht gut verkauften. Er wurde nie zu einem David McCullough. Aus irgendeinem Grund nahm er sich nie die wirklich bedeutenden historischen Persönlichkeiten vor – Napoleon, Lincoln, Washington, Franklin Roosevelt –, sondern konzentrierte sich auf bewundernswerte, außergewöhnliche Männer und Frauen, die er seinen Lesern als mustergültige Vorbilder nahebrachte.
Zu der Zeit, als Erica mit Taggert rang, arbeitete Harold an einem Buch über die britische Aufklärung. Er verfasste ein Gruppenporträt von David Hume, Adam Smith, Edmund Burke und einigen der Denker, Politiker, Ökonomen und Salonliteraten, die das englische Denken im 18. Jahrhundert dominierten. Eines Abends erzählte er Erica von den Unterschieden zwischen der französischen und der britischen Aufklärung, weil er dachte, dies könne ihr bei ihrer Arbeit helfen.
Die französische Aufklärung wurde von Denkern wie Descartes, Rousseau, Voltaire und Condorcet
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