Das soziale Tier
Vernunft ist für den Philosophen das, was die Gnade für den Christen ist. Die Gnade treibt den Christen zum Handeln, die Vernunft treibt den Philosophen an.« 20
Im Laufe der Jahrhunderte versuchten Sozialwissenschaftler eine Wissenschaft von der menschlichen Natur zu begründen. Sie schufen Modelle, die sie in die Lage versetzen sollten, menschliches Verhalten vorherzusagen und zu beeinflussen. Politikwissenschaftler, Professoren für internationale Beziehungen und andere entwickelten komplexe Modelle. Unternehmensberater führten Experimente durch, um die Unternehmensführung wissenschaftlich zu untermauern. Die Politik organisierte sich um abstrakte Ideologien, imposante Systementwürfe, die alles in eine logisch konsistente Gesamtheit von Überzeugungen integrieren.
Diese rationalistische Denkweise ist allgegenwärtig, und sie erscheint einleuchtend und selbstverständlich. Die rationalistische Tradition erwies sich als verlockend. Sie verhieß Gewissheit und befreite Menschen von der Sorge, die durch Undurchsichtigkeit und Zweifel verursacht wird. Die Anschauungen über die menschliche Natur scheinen von der vorherrschenden zeitgenössischen Technologie beeinflusst zu werden. Im mechanischen und im anschließenden industriellen Zeitalter fasste man den Menschen als Maschine auf und sah in der Wissenschaft vom Menschen eine Disziplin, die eng mit Maschinenbau oder Physik verwandt war.
Im 19. und 20. Jahrhundert gewann der Rationalismus enorm an Ansehen. Doch er weist gewisse Beschränkungen und Einseitigkeiten auf. Diese Art zu Denken ist reduktionistisch; sie zerlegt Probleme in Einzelteile und ist blind für emergente Systeme. Wie Guy Claxton in seine Buch The Wayward Mind darlegt, stellt der Rationalismus die Erklärung über die Beobachtung. 21 Für die Lösung eines Problems wird mehr Zeit aufgewendet als für die Erfassung der Situation. Das rationalistische Denken ist zweckgerichtet, nicht spielerisch. Das Wissen, das in Wörtern und Zahlen ausgedrückt werden kann, hat hier einen höheren Stellenwert als das Wissen, bei dem das nicht möglich ist. Der rationalistische Ansatz sucht nach Regeln und Prinzipien, die sich kontextübergreifend anwenden lassen, und er unterschätzt die Bedeutung spezifischer Kontexte.
Außerdem basiert der Rationalismus auf einer Reihe von Annahmen. Er geht davon aus, dass Sozialwissenschaftler die Gesellschaft in objektiver Weise von außen betrachten können, ohne Leidenschaften und unbewusste Voreingenommenheiten.
Er geht davon aus, dass das Denken vollständig oder zumindest größtenteils bewusst gesteuert werden kann.
Er unterstellt, dass die Vernunft leistungsfähiger ist als Gefühl und Begehren und sich von diesen trennen lässt.
Er nimmt an, dass die Wahrnehmung eine durchsichtige Linse ist, die dem Betrachter ein unverfälschtes und zuverlässiges Bild von der Welt liefert.
Er geht davon aus, dass das menschliche Handeln sich nach Gesetzen richtet, die vergleichbar mit den physikalischen Gesetzen sind, und wir sie nur erkennen müssten. Ein Unternehmen, eine Gesellschaft, eine Nation, ein Universum – sie alle sind große Maschinen, die auf der Basis unveränderlicher Ursache-Wirkung-Verknüpfungen funktionieren. Die Naturwissenschaften sind das Modell, dem die Verhaltenswissenschaften nacheifern sollten.
Schließlich brachte der Rationalismus seine eigene Form des Extremismus hervor. Die naturwissenschaftliche Revolution führte zum Szientismus. Irving Kristol definierte den Szientismus als die »Elefantiasis der Vernunft«. Der Szientismus überdehnt die Grundsätze rationaler Erkenntnisgewinnung und schließt jeden Faktor aus, der sich nicht mit Formeln erfassen lässt.
In den letzten Jahrhunderten sind aus dem übertriebenen Glauben an die reine Vernunft viele große Irrtümer und Katastrophen hervorgegangen. Ende des 18. Jahrhunderts haben die Revolutionäre in Frankreich die Gesellschaft brutal misshandelt, weil sie eine völlig neue Ordnung auf rationaler Grundlage aufbauen wollten. Die Sozialdarwinisten glaubten, sie hätten die unwandelbaren Gesetze der menschlichen Evolution entdeckt, die man dazu nutzen könne, das Überleben der »Tauglichsten« sicherzustellen. Unter dem Einfluss von Frederick Taylor versuchten Unternehmensleitungen, Fabrikarbeiter in hypereffiziente Rädchen zu verwandeln. Im 20. Jahrhundert wollten die Kommunisten mit Hilfe der angewandten Sozialwissenschaft (social engineering) ganze Nationen effizienter gestalten und zum
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