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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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geprägt. Es waren Philosophen, die einer Welt des Aberglaubens und des Feudalismus entgegentraten und diese dem klärenden Licht der Vernunft aussetzen wollten. Beflügelt von der naturwissenschaftlichen Revolution, glaubten sie fest an die Fähigkeit der individuellen Vernunft, Irrtümer zu erkennen und mit Hilfe der Logik zu allgemeingültigen Wahrheiten zu gelangen. Taggert und sein Team waren die einfältigen Kinder der französischen Aufklärung.
    Aber, so sagte ihr Harold, etwa zur gleichen Zeit vollzog sich noch eine andere Aufklärung. Die führenden Köpfe der britischen Aufklärung erkannten die Bedeutung der Vernunft an; sie waren keine Irrationalisten. Allerdings glaubten sie, dass die Vernunft des Einzelnen begrenzt und von nachrangiger Bedeutung sei. »Die Vernunft ist nur eine Sklave der Affekte und soll es sein, und sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen als die, denselben zu dienen und zu gehorchen«, schrieb David Hume. 2 »Wir sind im Allgemeinen Menschen von unwissenden Gefühlen«, behauptete Edmund Burke. »Wir fürchten uns davor, Menschen dazu ermuntern, von ihrem eigenen privaten Vernunftkapital zu leben und sich gegenseitig danach zu beurteilen, weil wir vermuten, dass dieses Kapital in jedem Menschen klein ist.« 3
    Während die führenden Denker der französischen Aufklärung die Sprache der Logik, der Wissenschaft und die universeller Regeln sprachen, betonten die Wegbereiter der britischen Aufklärung die Macht der Gefühle und Gemütsbewegungen. Tatsächlich gründeten die Anhänger der britischen Aufklärung ihre Konzeption der menschlichen Natur auf die Vorstellung, dass das Verhalten weitgehend von unbewussten, Stufe-Eins-Denkprozessen geprägt wird. Zu Beginn seiner Laufbahn schrieb Edmund Burke ein Buch über Ästhetik mit dem Titel Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Ihm war aufgefallen, dass Menschen oftmals ähnliche Dinge als schön beurteilen. Menschen sind keine unbeschriebenen Blätter, die durch Erziehung und Bildung vollgeschrieben würden; sie kommen mit gewissen Vorlieben, Zu- und Abneigungen zur Welt und wachsen damit auf. Ihre »Sinne und ihre Einbildungskraft fesseln die Seele, bevor der Verstand bereit ist, sich ihnen entweder anzuschließen oder sich ihnen zu widersetzen«, schrieb er. 4
    Während die Anhänger der französischen Aufklärung von einem Naturzustand ausgingen, in dem unabhängige Individuen Gesellschaftsverträge zu ihrem wechselseitigen Vorteil abschließen, betonten Vertreter der britischen Aufklärung, dass der Mensch mit einem sozialen Sinn geboren werde, der unterhalb der Bewusstseinsebene funktioniere. Menschen besitzen von Geburt an die Fähigkeit zu Mitgefühl, das heißt, sie nehmen Anteil an den Leiden und Freuden anderer. Sie werden von dem Wunsch geleitet, bewundert zu werden und diese Bewunderung auch zu verdienen. Sittliches Verhalten entspringt nach Meinung dieser Denker halbbewussten Empfindungen, nicht logischen Schlüssen aus abstrakten Gesetzen.
    Während die französischen Aufklärer die Gesellschaft und ihre Institutionen oftmals als Maschinen ansahen, die man auseinandernehmen und neu zusammensetzen kann, sahen die britischen Aufklärer darin Organismen, unendlich komplexe Netzwerke lebendiger Beziehungen. Ihres Erachtens war es oftmals ein Fehler, ein Problem in Einzelteile zu zerlegen, weil die Wahrheit in der Eigenart der Beziehungen zwischen den Objekten, die man untersucht, zu finden ist. Der Kontext ist entscheidend. Abstrakten Allgemeinbegriffen sollte man misstrauen. Historische Präzedenzfälle liefern nützlichere Anhaltspunkte als allgemeingültige Prinzipien.
    Die Philosophen der britischen Aufklärung machten einen Unterschied zwischen Wandel und Reform. Der Wandel ist ein technischer Prozess, der die Natur einer Institution von Grund auf verändert. Reform ist ein medizinischer Prozess, der den Wesenskern unberührt lässt, während er Wunden zusammenflickt und das Wesen wiederbelebt. Harold versuchte zu erklären, wie die Methoden der britischen Aufklärung Erica helfen könnten, Taggerts Fehler zu verstehen und alternative Vorgehensweisen zu erarbeiten.
    Die nächste Frage
    Und tatsächlich ist die Debatte um reine Vernunft auf der einen Seite und Intuition und Neigung auf der anderen eine der ältesten überhaupt. In der Geistesgeschichte haben sich rationalistische und romantische Perioden abgelöst, oder, um mit Alfred North Whitehead zu

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