Das soziale Tier
Antwort, von der man ahnt, dass sie falsch sein könnte, noch mal zu ändern. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen ihre Testergebnisse verbessern, wenn sie die Antworten, bei denen sie im Zweifel sind, verändern. 4 Raymond forderte die Menschen auf, auf solche subtilen Warnsignale zu achten, falls sie in ihnen auftauchen.
Manchmal frustrierte er Erica ganz enorm. Die Gruppe setzte sich in der Regel einen Zeitplan: Für jeden Vorschlag drei Tage. Wenn sie dann am dritten Tag mitten in einer Diskussion steckten, um einen der Vorschläge auszuarbeiten, konnte es geschehen, dass Raymond plötzlich die Seiten wechselte und eine ganze andere Strategie befürwortete als jene, auf die sie sich verständigt hatten. »Du hast doch gerade genau das Gegenteil behauptet«, rief Erica dann wütend.
»Ich weiß. Ein Teil von mir glaubt dieses. Ein Teil von mir glaubt jenes. Ich will bloß, dass all meine Schizo-Persönlichkeiten ihre Meinung äußern können«, scherzte er. Tatsächlich haben Forscher herausgefunden, dass Menschen, die sogenanntes »dialektisches Bootstrapping« betreiben, Probleme oftmals effizienter lösen als Menschen, die das nicht tun. Gemeint ist damit, dass sie innere Zwiegespräche führen, in denen sie einen Impuls einem anderen gegenüberstellen.
Nachdem alle Argumente vorgebracht worden waren, schritt der Brunch Club schließlich zur Abstimmung. Wenn ein Vorschlag angenommen wurde, hielt Raymond das Blatt mit dem Vorschlag darauf hoch und verkündete mit einem breiten Lächeln: »Das wird ordentlich in die Hose gehen.«
Als er das zum ersten Mal sagte, wusste Erica nicht, was er meinte. Also erklärte er es ihr: »Der große Wirtschaftsguru Peter Drucker sagte, etwa ein Drittel der unternehmerischen Entscheidungen, die er beobachtete, habe sich als richtig erwiesen, ein weiteres Drittel sei nur minimal effektiv gewesen, und das dritte Drittel waren totale Fehlschläge. Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Entscheidung falsch oder weitgehend falsch ist, beträgt zwei Drittel. Wir glauben, dass unser Konzept großartig ist, weil wir glauben wollen, dass wir großartig sind. Wir wollen nicht, dass unser Ego angekratzt wird, also reden wir uns gut zu. Tatsächlich aber geht es im Leben darum, Fehler zu machen. Nur durch eine Reihe geordneter Fehler entwickeln wir uns weiter. Jede Aktion ist ein teilweiser Fehlschlag, der durch die nächste Aktion korrigiert werden muss. Man kann es mit dem Gehen vergleichen. Bei jedem Schritt gerät der Körper aus dem Gleichgewicht, worauf man das andere Bein zum Ausgleich nach vorn setzt.« 5
Am Abend kam Erica nach Hause und erzählte Harold, was Raymond an diesem Tag getan hatte. Harold war ihm nur einige Male begegnet, bei einem Grillfest und einer Betriebsfeier, aber Raymond erinnerte ihn an einen Mann, den er einst gekannt hatte. Jener hatte als Tischler für ein Theaterensemble in der Innenstadt gearbeitet. Er hatte schon immer in einem Theater arbeiten wollen, doch keinerlei Wunsch verspürt, Schauspieler zu werden. Auf der Highschool hatte er es probiert, aber er fühlte sich unbehaglich auf der Bühne. Also wurde er Bühnenarbeiter. Ihm gefiel der Teamgeist der Schauspielertruppe, und es machte ihm Spaß, einen Beitrag zur Produktion zu leisten. Dabei freute er sich klammheimlich darüber, dass er oft mehr über das Theater wusste als die Regisseure und die Stars, die durch ihre aufgeblasenen Egos verblendet wurden. Harolds Theorie war, dass Raymond zu dem Schlag Mensch gehörte, der die Dinge gern zum Laufen brachte. Aber er vermutete auch, dass Raymond im entscheidenden Moment nicht das Zeug dazu hätte, Taggert offen die Stirn zu bieten. Er würde ungern auf der Bühne stehen, um in dem Drama, in dem es um die Rettung des Unternehmens ging, eine Hauptrolle zu spielen.
Erica war sich da nicht so sicher. Sie sah, wie sich in der Cafeteria Tag für Tag die Menschen um ihn scharten. Er war ein sehr vielseitiger, widersprüchlicher Charakter. Er war außerordentlich bescheiden, aber er konnte auch äußerst eigenwillig sein. Gemeinhin wird angenommen, bescheidene Menschen seien leicht rumzukriegen, doch manchmal war Raymond von einem unerschütterlichen Starrsinn. Seine große Stärke war paradoxerweise sein klares Bewusstsein der eigenen Unwissenheit, was ihn ziemlich selbstbewusst machte.
Das Treffen
Die Diskussionen im Umfeld des Brunch Clubs wurden von Mitarbeitern der mittleren Führungsebene aufmerksam verfolgt. Viele der
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