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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sein musste und einen Aussichtspunkt brauchte, von dem aus man sich selbst von außen betrachten konnte.
    Sie erzählte sich eine Geschichte über sich selbst. Es war die Geschichte von Verirrung und Rettung – die Geschichte einer Frau, die versehentlich von ihrem Weg abkam und die Anker brauchte, die sie wieder mit dem Wahren und Vortrefflichen in Verbindung brachten. Sie musste ihr Leben ändern, eine Kirche finden, sich einer Gemeinschaft anschließen und eine Aufgabe haben. Vor allem aber musste sie, um ihre Ehe zu retten, eine Reihe moralischer Verpflichtungen eingehen.
    Sie hatte sich immer als emsiges junges Mädchen gesehen, das den amerikanischen Traum leben wollte. Aber sie hatte eine Zeit durchgemacht, in der sie von ihren Ambitionen verzehrt worden war. Jetzt wollte sie ihren Fehler berichtigen und zu neuen Gestaden aufbrechen.
    Das Narrativ der Wiedergutmachung half Erica, ihr Selbstbild zu ordnen. Es half ihr, innere Ideale mit unwillkürlichen Handlungen zu verknüpfen. Es half ihr, ein reifer Mensch zu werden. Reife bedeutet, dass man die verschiedenen Charakterzüge und Module, die in einem aktiv sind, so gut wie möglich versteht. Der reife Mensch gleicht einem Fremdenführer, der einen sicher durch Stromschnellen manövriert und sagt: »Die habe ich schon etliche Male überwunden.«
    In den folgenden Monaten entdeckte Erica ihre Liebe zu Harold neu, und sie konnte sich nicht vorstellen, was sie früher einmal gedacht hatte. Er würde nie ein welterschütternder Titan wie Mister Schöner Schein sein. Aber er war bescheiden und rechtschaffen und wissbegierig. Und mit seinen vielfältigen Interessen und Forschungsgebieten beteiligte er sich an der wichtigsten Suche überhaupt, der Suche nach dem Sinn im Leben. Menschen wie er waren es wert, dass man in ihrer Nähe blieb. Jedenfalls gehörte er zu ihr. Im Lauf vieler Jahre waren sie immer enger zusammengewachsen, und auch wenn ihre Beziehung nicht die ganze Zeit über inspirierend, aufregend und dynamisch gewesen sein mochte, so war es doch ihr Leben, und die Antwort auf jegliches Unbehagen bestand darin, sich ihm zu stellen und es zu ergründen, nicht darin, in irgendein sagenhaftes Land des schönen Scheins zu entfliehen.

Kapitel 19 Führungskraft
    Sie trafen den Mann, der Präsident werden wollte, vor einer Wahlkampfveranstaltung hinter der Bühne. Zu diesem Zeitpunkt bemühte er sich noch darum, als Kandidat seiner Partei nominiert zu werden, und er hatte Erica wochenlang angerufen, um sie in sein Team zu holen. Seine Mitarbeiter hatten schon lange nach Frauen, Angehörigen von Minderheiten und Personen mit Erfahrungen in der Wirtschaft gesucht, um sie für Führungspositionen zu gewinnen, und Erica war ein Hattrick. Grace rief fast täglich an, um etwa 45 Sekunden auf sie einzureden – sie zu umwerben, sie anzuflehen, dick aufzutragen mit seiner sofortigen Vertraulichkeit und schmeichelnden Beharrlichkeit. »Wie geht’s, Schwester? Haben Sie eine Entscheidung getroffen?« Und so fand sie sich mit Harold im Schlepptau im Klassenzimmer einer Highschool wieder, direkt neben einer zum Bersten gefüllten Turnhalle. Sie sollten ihn jetzt treffen, die Kundgebung verfolgen und dann auf dem Weg zur nächsten Veranstaltung im Kleinbus mit ihm sprechen.
    Etwa dreißig Menschen liefen schüchtern in dem Klassenzimmer herum – keiner von ihnen berührte das Gebäck oder die Cola-Dosen. Plötzlich hörte man gleichmäßige schnelle Schritte, und schon kam er herein, in seinem eigenen Glanz erstrahlend. Erica hatte ihn schon so oft im Fernsehen gesehen, dass sie jetzt das befremdliche Gefühl hatte, ihn auf einem Super-HDTV-Bildschirm zu sehen, nicht leibhaftig.
    Richard Grace war die Projektion einer nationalen Wunschfantasie – hochgewachsen, schlank, strahlend weißes Hemd, Hosen mit perfekter Bügelfalte, Geschichte machender Haarschnitt und ein Gregory-Peck-Gesicht. Ihm folgte seine für ihr stürmisches Temperament bekannte Tochter – eine Schönheit mit häufig wechselnden Partnern, deren Verhalten das Produkt einer Kindheit war, die hauptsächlich durch väterliche Vernachlässigung gekennzeichnet war. Ihnen schloss sich ein Schwarm hässlicher Entlein an – seine Berater. Die Berater hatten dieselben Interessen wie Grace, die gleichen geheimen Ambitionen wie er, aber sie hatten dicke Bäuche, lichter werdendes Haar und eine schlechte Körperhaltung, weshalb ihnen die Rolle der zuflüsternden Taktiker zufiel, während er den politischen Adonis

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