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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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dass er einer von ihnen war – wie ein Freund oder ein Mitglied der Familie (obwohl er so sehr viel besser aussah).
    Zwölf Minuten lang erzählte er also aus ihrem Leben. Er trug diese Sachen ja Hunderte von Malen vor, und dennoch hielt er in den entscheidenden Momenten noch immer kurz inne, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. Er gab ihnen die Gelegenheit, ihre eigenen Ideen zu beklatschen. »In dieser Bewegung geht es um euch und darum, was ihr für dieses Land leistet.«
    Wie die meisten der exzellenten Köpfe in seinem Metier versuchte er einen Kompromiss zu finden zwischen dem, was seine Wähler hören wollten, und dem, was sie seiner Meinung nach hören sollten. Es waren einfache Leute, die sich nur sporadisch für Politik interessierten, und er bemühte sich, ihre Ansichten und Vorlieben zu berücksichtigen. Gleichzeitig hielt er sich selbst für einen besessenen Politiker, der nichts mehr mochte, als sich mit einer Gruppe von Experten in ein Problem zu vertiefen. Er versuchte diese beiden Gespräche in seinem Kopf in Rufweite zueinander zu halten. Gelegentlich erlaubte er es sich, ihre niederen Instinkte zu bedienen und die plumpen Halbwahrheiten auszusprechen, die ihm den größten Beifall einbrachten. Schließlich war er ein Markenname auf dem Massenmarkt, und er musste die Stimmen von Millionen gewinnen. Aber um seiner Selbstachtung willen versuchte er auch, seine eigentlichen, wahren Ansichten nicht zu vergessen. Denn genährt durch Lobhudelei drohten die populären Anschauungen immer seine wahren Überzeugungen zu ersticken.
    In der zweiten Hälfte der Rede wandte sich Grace dem »Ich« zu. Er wollte seinen Zuhörern zeigen, dass er die Persönlichkeit besaß, die das Land zum gegenwärtigen Zeitpunkt brauchte. Er sprach über seine Eltern – er war der Sohn eines Lastwagenfahrers und einer Bibliothekarin. Er sprach über die Mitgliedschaft seines Vaters in der Gewerkschaft. Er stellte klar (wie es alle Kandidaten tun müssen), dass sein Charakter geformt worden war, lange bevor er überhaupt daran gedacht hatte, in die Politik zu gehen – in seinem Fall durch seinen Militärdienst und den Tod seiner Schwester. Er schilderte alle wichtigen biografischen Fakten, aber er hatte sie schon so oft abgespult, dass er den Kontakt zur Realität dieser Ereignisse verloren hatte. Seine Kindheit und sein frühes Mannesalter waren nur noch das Skript, mit dem er zeit seines Lebens Wahlkampf gemacht hatte.
    Selbstdefinition ist das Entscheidende in jedem Wahlkampf, und Grace blieb bei seinem Narrativ, das, wie es ein Berater formulierte, »Tom Sawyer wird erwachsen« lautete. Er erzählte von seinem Aufwachsen in einer Kleinstadt im Mittleren Westen, seinen Kleinjungenstreichen, den Lektionen, die er über die weitere Welt und ihre Ungerechtigkeiten gelernt hatte. Er kehrte seinen Anstand hervor, der aus einfacheren Zeiten stamme, seine arglose Rechtschaffenheit und seinen gesunden Menschenverstand.
    Der letzte Abschnitt seiner Rede lautete »Ihr und ich gemeinsam«. Er gab eine Anekdote über ein Treffen mit einer klugen älteren Dame zum Besten, die ihm Geschichten erzählt hatte, die jeden Punkt seines Wahlkampfprogramms zu bestätigen schienen. Er beschrieb ihnen die funkelnden Schätze, die sie zusammen in ihren Besitz bringen würden, den Garten des Überflusses, den sie am Ende des Weges finden würden, den Ort, wo innere Zwietracht durch Friede und Freude abgelöst würde. Niemand im Publikum glaubte wirklich, ein Politiker könne eine solche Utopie verwirklichen, aber im Augenblick riss diese Vision alle mit und löschte die innere Anspannung in ihnen aus. Sie liebten Grace dafür, dass er ihnen dieses Geschenk machte. Als er seine Rede unter ihrem Jubel und Applaus beendete, geriet der ganze Saal aus dem Häuschen.
    Die private Wahlkampfrede
    Ein Berater erschien und brachte Erica und Harold in den Kleinbus – Erica auf die mittlere Sitzbank und Harold auf die hintere. Grace wirkte so cool und sachlich, als käme er gerade von einer langweiligen Pressekonferenz über vierteljährliche Gewinnerwartungen. Er traf ein paar Terminabsprachen mit einem Berater, führte ein dreiminütiges Handy-Interview mit einem Radiosender und richtete dann seinen Laserstrahl auf Erica, die neben ihm saß.
    »Als Erstes will ich mein Angebot machen«, sagte er. »Ich habe Leute, die sich mit den politischen Prozessen und den politischen Inhalten auskennen, aber ich habe keinen erstklassigen Profi, der die ganze

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