Das soziale Tier
Schuld freisprechen und für alles Verschwörungen oder andere verantwortlich machen. Wir können uns aber auch für Narrative entscheiden, bei denen wir selbst unter den schlimmsten Umständen spirituelles Wachstum erreichen können. »Ich bin dankbar für diesen schweren Schicksalsschlag«, sagte eine sterbende junge Frau zu Viktor Frankl, als sie beide in einem Konzentrationslager inhaftiert waren. »In meinem früheren Leben war ich verwöhnt und habe spirituelle Fähigkeiten nicht ernst genommen«, sagte sie. Sie deutete auf einen Ast, den sie von ihrem Etagenbett aus durch das Fenster sehen konnte, und schilderte, was der Ast ihr in ihrer Not sagte. »Er sagte mir: ›Ich bin da – ich bin da – ich bin das Leben, das ewige Leben.‹« 26 Dies ist ein Narrativ darüber, wie eine weltliche Niederlage in einen spirituellen Sieg umgewandelt wurde. Andere würden sich in einer derartigen Situation für ein anderes Narrativ entscheiden.
Unbewusste Emotionen haben zwar eine Vormachtstellung, aber keine diktatorische Alleinherrschaft, wie es Jonathan Haidt einmal formuliert hat. Die Vernunft kann den Tanz nicht aus eigener Kraft aufführen, aber sie kann den Anstoß dazu geben und einen steten und subtilen Einfluss ausüben. Wir besitzen vielleicht keinen freien Willen, aber wir können aus freien Stücken nein sagen. Wir können keine moralischen Reaktionen erzeugen, aber wir können einige Impulse hemmen und andere verwerfen. Ausgangspunkt der intuitionistischen Anschauung ist die optimistische Annahme, dass Menschen einen angeborenen Drang haben, Gutes zu tun. Das Gegengewicht dazu bildet die pessimistische Annahme, dass diese moralischen Empfindungen einander widerstreiten und mit egoistischeren Antrieben konkurrieren.
Der intuitionistische Ansatz wird komplettiert durch die Überzeugung, dass moralische Empfindungen einer bewussten Überprüfung und Verbesserung unterliegen. Die Philosophin Jean Bethke Elsthain erinnert sich daran, wie sie als kleines Mädchen in der Sonntagsschule mit ihren Klassenkameradinnen dieses kleine Liedchen sang: »Jesus liebt die kleinen Kinder/Alle Kinder auf der Welt/Ob sie gelb, schwarz oder weiß/alle sind Ihm gleich viel wert/Jesus liebt die kleinen Kinder dieser Welt.« 27 Dieses Lied ist weit entfernt von der intellektuell anspruchsvollen Philosophie, die Elshtain heute an der University of Chicago unterrichtet, aber es ist eine Lektion in Menschlichkeit, die früh verankert wurde und nachhaltig wirkt.
Wiedergutmachung
Ericas Familie war nicht perfekt. Ihre Mutter wurde von Dämonen verfolgt. Ihre Verwandten waren die meiste Zeit ziemlich schrecklich. Aber sie hatten ihr die Überzeugung eingepflanzt, dass die Familie, das Vaterland und die Arbeit etwas Heiliges sind. Diese Überzeugungen wurden von Emotionen unterfüttert.
Doch als Erica älter wurde, betrat sie eine andere Welt. Einige ihrer früheren Seinsweisen schliefen ein – manchmal zu ihrem Nutzen, manchmal zu ihrem Nachteil. Tag für Tag veränderte sie sich ein wenig. Größtenteils waren die Veränderungen oberflächlicher Art – wie sie sich anzog und redete –, stellenweise aber auch sehr tiefgreifend.
Wenn man sie nach ihren alten Wertvorstellungen gefragt hätte, hätte sie geantwortet, dass sie sich diesen natürlich nach wie vor verpflichtet fühle. Tatsächlich aber hatten diese an Bindungskraft für sie verloren. Eine gewisse strategisch- berechnende Einstellung hatte die moralische Gesinnung geschwächt, die ihre Verwandten ihr auf ihre chaotische Art beizubringen versucht hatten.
Zu dem Zeitpunkt, als sie sich mit Mister Schöner Schein in dem Hotelzimmer befunden hatte, war sie, ohne es zu merken, bereits ein anderer Mensch gewesen. Der Entschluss, mit ihm zu schlafen, war nicht der eigentliche Moment des moralischen Versagens. Dieser Moment fühlte sich nicht einmal wie ein Entschluss an. Er war lediglich der Höhepunkt einer langen, unbewussten Veränderung. Sie hatte ihre alten Werte niemals bewusst über Bord geworfen; ganz entschieden hätte sie das verneint, wenn man sie danach gefragt hätte. Aber diese alten Seinsweisen hatten in dem unbewussten Rangeln um Vorherrschaft in ihrem Innern ihren Vorsprung eingebüßt. Erica war zu einer oberflächlicheren Person geworden, losgelöst von ihren tiefsten Potenzialen.
Als sie in den Wochen danach über die Episode nachdachte, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass man sich tatsächlich selbst fremd werden konnte, dass man immer auf der Hut
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