Das soziale Tier
gab. Aufgrund dieser geringfügigen genetischen Unterschiede hatten sie ihr Dasein als »Pausenaufsicht« gefristet, derweil er sein Leben damit verbracht hatte, mit allem Möglichen ungeschoren davonzukommen.
Grace schaute sich im Zimmer um und erkannte sofort, dass hier Gesundheitslehre unterrichtet wurde. An einer Wand hingen anatomische Poster der männlichen und weiblichen Fortpflanzungssysteme. In seinem Geist gab es nicht einmal die Spur einer Unruhe – nur den Hauch einer Ahnung, dass er sich nicht mit einem Uterus oder einem Schwanz in seinem Rücken fotografieren lassen sollte. Er glitt zur anderen Seite des Raums.
Seit sechs Monaten war er nicht mehr allein gewesen. In den letzten sechs Jahren hatte er in jedem Raum, den er betreten hatte, sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er hatte sich von der normalen Wirklichkeit verabschiedet und lebte jetzt allein von der Energie der Wahlkampftour. Er ernährte sich von menschlichen Kontakten, so wie andere Menschen durch Nahrung und Schlaf überleben.
Er sprühte vor Tatkraft, als er sich durch das Klassenzimmer bewegte. In rascher Folge schenkte er einem Quartett von Weltkriegsveteranen, zwei übertrieben ehrfürchtigen Studenten, sechs lokalen Spendern und einem Landrat sein napoleonisches »Mann des Schicksals«-Lächeln. Wie ein Baseballspieler verstand er es, seine Beine stets in Bewegung zu halten. Rede, lache, umarme, aber hör nie auf, dich zu bewegen. Tausend persönliche Begegnungen pro Tag.
Die Leute sagten ihm die erstaunlichsten Sachen. »Ich liebe Sie!« … »Ich liebe Sie auch.« … »Mach ihn fertig!« … »Ich vertraue Ihnen das Leben meines Sohnes an.« … »Könnte ich nur fünf Minuten haben?« … »Können Sie mir einen Job beschaffen?« Sie erzählten ihm ihre erschütterndsten, tragischsten Krankheitsgeschichten. Sie wollten ihm Dinge schenken, Bücher, Grafiken, Briefe. Einige fassten einfach nur seinen Arm und schmolzen dahin.
Er gab sich 15 Sekunden dauernden Kontaktmomenten hin, in denen er mit seinem messerscharfen Verstand das Spiel der Lippenbewegungen und den Ausdruck der Augen seines Gegenübers erfasste und interpretierte. Jeder bekam Aufmerksamkeit und eine Berührung; er berührte Arme, Schultern und Hüften. Er war wie ein Pulsar, der Strahlen der guten Laune und des Mitgefühls aussandte, und er wurde niemals ungehalten wegen des Drills, den ihm seine Prominenz abverlangte. Wenn eine Kamera auftauchte, legte er seinen Arm um die Person, die mit ihm posierte. Im Lauf der Jahre erwarb er sich fundierte Kenntnisse über jede Sofortbildkamera der Welt. Wenn der Fotograf ins Stocken geriet, konnte er geduldig Ratschläge geben, auf welchen Knopf dieser drücken und wie lange er ihn gedrückt halten solle, und das alles wie ein Bauchredner, ohne mit dem Lächeln aufzuhören. Er konnte Aufmerksamkeit in Energie umwandeln.
Schließlich ging er hinüber zu Erica und Harold. Erica umarmte er, Harold schenkte er ein verschmitztes, verschwörerisches Grinsen, das er mitgeschleiften Ehemännern vorbehielt, und ließ dann seine ganze Größe auf sie wirken. Mit den anderen im Klassenzimmer hatte er sich überschwänglich und laut unterhalten. Ihnen gegenüber schlug er einen ruhigen, vertraulichen Ton an. »Wir werden uns später noch mal sprechen«, flüsterte er Erica ins Ohr. »Ich freue mich so, dass Sie gekommen sind …« Er sah sie ernst und wissend an, dann umfasste er mit einer Hand Harolds Kopf, während er ihm in die Augen blickte, als wären sie beide Teil einer Verschwörung. Und dann war er auch schon verschwunden.
Sie hörten einen verzückten Beifallssturm aus der Turnhalle und gingen hinüber, um der Show ebenfalls beizuwohnen. Tausend Menschen strahlten ihren Helden an und winkten ihm zu, hüpften auf ihren Turnschuhen, schrien sich die Kehle aus dem Hals und richteten ihre Handykameras auf ihn. Er warf seine Jacke ab und genoss die Woge der Zustimmung, die ihm entgegenschlug.
Die Wahlkampfrede war einfach strukturiert: zwölf Minuten »Du« und zwölf Minuten »Ich«. In der ersten Hälfte sprach er über den gesunden Menschenverstand seiner Zuhörer, über ihre großartigen Werte, darüber, wie wunderbar es war, dass sie sich zusammengetan hatten, um diese große Sache voranzubringen. Er war nicht da, um sie zu belehren oder für irgendetwas zu plädieren. Er war hier, um ihren Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, um ihre Hoffnungen, Ängste und Wünsche in Worte zu fassen, um ihnen zu zeigen,
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