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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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dort sind, werden Sie keinen einzigen Tag freinehmen wollen.
    Wir werden uns nicht mit kleinen Schritten begnügen, sondern hochgesteckten Zielen nacheifern. Ich will kein zaghafter Präsident sein. Ich will ein bedeutender Präsident sein. Ich habe das Talent dazu. Ich weiß besser Bescheid auf den meisten Politikfeldern als irgendjemand sonst in diesem Land. Ich habe mehr politischen Mut als irgendein anderer Politiker. Meine Einstellung wird sein: ›Ich bin dran. Gebt mir den Ball!‹«
    Andere Leute, die Grace von einer Stelle aus betrachteten, die sein Charisma nicht erreichte, hätten auf diese kleine Rede vielleicht mit gemischten Gefühlen reagiert. Aber Erica und Harold standen völlig in seinem Bann. In diesem Augenblick waren sie der Meinung, es sei die beeindruckendste Rede, die sie je gehört hatten. Sie glaubten, sie zeige sein verblüffendes Selbstbewusstsein, seine erstaunliche Klugheit und seine bemerkenswerte Einsatzbereitschaft. Sie waren nur ein paar Minuten mit ihm zusammen gewesen, aber sie steckten bereits in jener starbegeisterten Schwärmerei, die sie, insbesondere aber Erica, in den nächsten acht Jahren vollkommen in Beschlag nehmen sollte.
    Politische Psychologie
    Harold hatte Wahlen bisher keine große Beachtung geschenkt. Er hatte keinen Zugang zu den internen Umfragedaten und Strategiepapieren gehabt. Erica bewegte sich schon nach wenigen Tagen in der Organisation so selbstverständlich wie ein Fisch im Wasser, Harold dagegen hielt sich eher an ihrem Rand und hatte nicht viel zu tun, außer zu beobachten und nachzudenken. Die tiefe Kluft zwischen Grace’ Beratern irritierte ihn sehr. Einige waren der Ansicht, im Wahlkampf gehe es in erster Linie darum, dem Wähler ein klares Programm vorzustellen. Man verspreche den Wählern konkrete politische Maßnahmen, die ihren Lebensstandard verbessern, und sie werden sich für die erbrachten Dienste mit ihren Stimmen revanchieren. Eine gute Politik zu guten Preisen.
    Andere vertraten den Standpunkt, in Wahlkämpfen gehe es vor allem darum, Gefühle zu wecken – elementare Bindungen zu Gruppen und Wählern aufzubauen, mit einer Zukunftsvision Hoffnung einzuflößen und die Botschaft zu senden: »Ich bin einer von euch. Ich reagiere auf Ereignisse so, wie ihr reagieren würdet. Ich will das, was ihr wollt.« Sie meinten, in der Politik gehe es nicht in erster Linie darum, Interessen zu verteidigen, sondern Emotionen zu schüren.
    Angesichts seiner eigenen, auch beruflichen Erfahrungen stellte Harold sich auf die Seite der zweiten Gruppe. Grace lieferte sich bei den Vorwahlen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem eiskalten Gouverneur aus New England namens Thomas Galving. Ihre politischen Programme waren mehr oder minder deckungsgleich, weshalb der Wettstreit zwischen ihnen zu einem Kampf der sozialen Symbole geworden war. Grace war der Sohn eines LKW -Fahrers, dennoch führte er seinen Wahlkampf in einem leisen, gefühlvollen Stil, sodass er zum Kandidaten der idealistischen Bildungsschicht wurde. In einer Vorwahl nach der anderen gewann er bei den Wählern mit College-Abschluss mit einem Vorsprung von 25 Prozentpunkten oder mehr. Bei den ersten zehn Vorwahlen schien er jede Wahlkampfveranstaltung im Umkreis von 50 Metern um das Büro eines Rektors abzuhalten. Er bot nicht bloß Programme an. Er bot Erfahrungen an. Er bot Hoffnung statt Furcht, Einheit statt Zwietracht, Intelligenz statt Unbesonnenheit. Die Botschaft lautete: »Das Leben ist schön. Unsere Möglichkeiten sind grenzenlos. Wir müssen lediglich die Fesseln der Vergangenheit abstreifen und in ein goldenes Morgen eintreten.«
    Galvings Vorfahren lebten seit 300 Jahren in den Vereinigten Staaten, und trotzdem war er ein streitsüchtiger, kämpferischer Typ. Er positionierte sich selbst als Krieger, der für die Interessen seiner Wähler kämpfen wolle. In seinen Wahlreden beschwor er die Loyalität den eigenen Leuten gegenüber, den Zusammenhalt und gemeinsames Kämpfen und gegenseitiges Verteidigen bis in den Tod. Im Lauf der Wochen ließ sich Galving jeden Tag in einer Bar oder einem Betrieb fotografieren. So sah man ihn, wie er ein Flanellhemd trug, ein Gläschen Whiskey hinunterkippte oder als Beifahrer in einem Pickup saß. Die Botschaft war: »Die Welt da draußen ist verkommen. Die anständigen Leute kriegen nicht das, was ihnen zusteht. Sie brauchen jemanden, der Härte und Treue über Unabhängigkeit und Ideale stellt.«
    Die Methoden der Kandidaten waren nicht gerade subtil,

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