Das soziale Tier
knüpfen, also zu Menschen, die statusmäßig über ihm standen. Keine Zeit hatte er darauf verwendet, auch horizontale Beziehungen aufzubauen, Beziehungen zu Menschen, die als Gleichrangige echte Gefährten hätten werden können. Wie kläglich es um sein Intimleben bestellt war, wurde ihm aufgrund der überschwänglichen Freude über seinen öffentlichen Erfolg nun umso schmerzlicher bewusst.
Und so kam es zur Krise. Vielleicht wachen Alphamännchen-Gorillas nicht mitten in der Nacht auf und tun sich selbst leid, weil »niemand ihr wahres Ich kennt«. Aber Harolds Nachbar machte sich auf, um den Schmerz zu lindern, so gut er es eben konnte. Nach Jahren der Verdrängung war er in punkto Beziehungsfähigkeit ein totaler Analphabet. Wenn er eine Frau küssen wollte, sah das ungefähr so aus, als würde der heilige Bernhard einen leidenschaftlichen Zungenkuss mit einer Nonne üben. Es war ein erdrückendes Gesabbere von verzweifelter Plumpheit. So konnte es passieren, dass eine vollkommen normale junge Frau bei einer Abendgesellschaft saß und, ehe sie sich versah, plötzlich des Senators schlüpfrige Zunge in ihrem Ohr verspürte.
Peinliche Enthüllungen kamen ans Tageslicht. Callgirls meldeten sich mit deftigen Geschichten in der Presse zu Wort. Der Ethik-Ausschuss trat zusammen. Late-Night-Komiker rissen Witze. Rücktritte wurden eingereicht, und der ehemalige Präsidentschaftsaspirant fand sich in einer Denkfabrik wieder und hielt nachmittägliche Plauderstündchen mit Harold.
Die problematische Seite
Harold stellte auch fest, dass bestimmte Ideen und Erkenntnisse der Wissenschaft kaum bis in die Welt der Politik vorgedrungen waren. Er bemerkte, dass Menschen in dieser Welt – egal, ob sie rechts oder links standen – bestimmte Überzeugungen teilten. Auf beiden Seiten herrschten individualistische Weltanschauungen vor, die auf der Annahme beruhten, die Gesellschaft basiere auf einem Vertrag zwischen autonomen Individuen. Beide unterstützten eine Politik, die die individuelle Handlungsfreiheit erweitern sollte. Gesellschaftlichen und gemeinschaftsbezogenen Bindungen, lokalen Vereinigungen oder unsichtbaren Normen schenkte dagegen keines der beiden Lager viel Beachtung.
Konservative Aktivisten machten sich den Individualismus des Marktes zu eigen. Sie reagierten heftig auf jeden staatlichen Versuch, die individuelle wirtschaftliche Wahlfreiheit einzuschränken. Sie befürworteten politische Maßnahmen, die die wirtschaftliche Handlungsfreiheit maximierten: Steuersenkungen, damit der Einzelne einen größeren Teil seines Einkommens behalten und nach eigenem Belieben ausgeben konnte, die Privatisierung der Rentenversicherung, damit der Einzelne mehr Gestaltungsfreiheit in Bezug auf seine Altersvorsorge hatte, Bildungsgutscheine, damit Eltern die Schulen für ihre Kinder selbst wählen konnten.
Die Liberalen bekannten sich zu einem moralischen Individualismus. Sie reagierten heftig auf jeden staatlichen Versuch, die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen in Fragen der Ehe, der Familienstruktur, der Rolle der Frau und in Fragen von Geburt und Tod einzuschränken. Sie befürworteten eine Politik, die die soziale Freiheit maximierte. Der Einzelne sollte auch in Fragen der Abtreibung, der Sterbehilfe und bei anderen schwerwiegenden Dingen frei entscheiden können. Aktivistengruppen setzten sich für die Rechte von Straftätern ein. Religion in Form von Krippen und Menoras sollte streng aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden, um das Gewissen des Einzelnen nicht zu belasten.
Der Individualismus von links und rechts brachte zwei erfolgreiche politische Bewegungen hervor, eine in den 1960er und eine in den 1980er Jahren. 1 Eine Generation lang hatte der Wind, ganz gleich, wer an der Macht war, in Richtung Autonomie, Individualismus und persönlicher Freiheit geweht, nicht in Richtung Gesellschaft, sozialer Verantwortung und gemeinschaftsbezogener Verpflichtungen.
Harold fiel auch auf, dass seine neuen Kollegen allesamt eine materialistische Einstellung vertraten. Sowohl Liberale als auch Konservative tendierten zu ökonomischen Erklärungen gesellschaftlicher Probleme und präsentierten meist Lösungsansätze für diese Probleme, die mit Geld verbunden waren. Einige Konservative plädierten für Kinderfreibeträge zur Förderung der Ehe, für steuerbegünstigte Wirtschaftszonen zur Bekämpfung städtischer Armut und für Schulgutscheine zur Verbesserung des Bildungssystems. Liberale betonten die andere Seite
Weitere Kostenlose Bücher