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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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lokal gutunterrichteten Kleinstadtbankiers durch eine manische Herde von Wertpapierhändlern abgelöst wurde, die Tausende von Kilometern weit weg saßen.
    In anderen Ländern sah es nicht viel besser aus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion strömten Experten für freie Marktwirtschaft nach Russland. Sie hatten ganze Berge von Ratschlägen zur Privatisierung im Gepäck. In der Frage aber, wie man das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnt und wieder Recht und Ordnung herstellt – die eigentlichen Triebkräfte des Wohlstandes –, wussten sie praktisch keinen Rat. Die Vereinigten Staaten marschierten im Irak ein in dem Glauben, es genüge, einen Diktator zu stürzen und die alten politischen Institutionen auszutauschen, um eine neue Nation zu errichten. Die Invasoren waren sich nicht über die psychologischen Folgen im Klaren, die die despotische Diktatur im Lauf einer Generation für die irakische Kultur gehabt hatte, den erbitterten Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen, der unter der Oberfläche gärte und schon nach kurzer Zeit in einem Blutbad zwischen den Ethnien mündete.
    Harolds Liste politischer Fehlentscheidungen nahm schier kein Ende: die Deregulierung des Finanzsektors in der Annahme, globale Börsenhändler bräuchten keinen Schutz gegen die Ansteckungseffekte, denen ihre eigenen Emotionen ausgesetzt waren; Industriegebiete, die in der Annahme errichtet wurden, Steuersenkungen in Innenstädten genügten, um die lokale Wirtschaft florieren zu lassen; Stipendienprogramme, die die Quote der Collegeabbrecher senken sollten und vorgaben, das Hauptproblem sei die unzureichende finanzielle Unterstützung, während tatsächlich nur etwa acht Prozent der Studenten aus rein finanziellen Gründen den College-Abschluss nicht schaffen. 2 Wichtiger sind Probleme, die mit dem emotionalen Desinteresse am College und unzureichender Leistungsmotivation zusammenhängen – immateriellen Faktoren, die von der vorherrschenden Denkweise in ihrer Bedeutung nicht richtig anerkannt wurden.
    Kurzum, die Regierung hatte versucht, die materielle Entwicklung zu fördern, dadurch letztlich aber die dieser zugrunde liegenden sozialen und emotionalen Strukturen geschwächt. Aber die Regierung war nicht der einzige Faktor, der das soziale Gefüge beeinträchtigte. Eine kulturelle Revolution hatte alte Gepflogenheiten und traditionelle Familienstrukturen untergraben. Eine wirtschaftliche Revolution hatte innerstädtische Ladenstraßen durch riesige, isolierte Einkaufszentren mit Filialen großer Ketten verschwinden lassen. Die Revolution in der Informationstechnik hatte Vereine, die wöchentliche Treffen im realen Leben abhielten, durch spezialisierte soziale Netzwerke im Internet ersetzt, in denen man seinesgleichen finden konnte. Aber bei all diesen Veränderungen hatte die Regierungspolitik unabsichtlich eine Rolle gespielt.
    Im Ergebnis führte dies zu einer Abnahme des Sozialkapitals, wie sie Robert Putnam unter anderem in seinem Buch Bowling Alone beschreibt. Die sozialen Bindungen untereinander wurden schwächer. Das Netz von Beziehungen, das Selbstbeherrschung, Achtung des Gegenübers und soziale Empathie vermittelt, verlor seine Macht. Für gebildete Menschen, die das soziale Kapital besaßen, um die neue Welt lockererer Bindungen zu erkunden, hatte dies manchmal eine befreiende Wirkung, doch für diejenigen, die nicht über das nötige Handwerkszeug dazu verfügten, waren die Folgen verheerend. Familienstrukturen, insbesondere bei den weniger Gebildeten, begannen zu zerfallen. Die Anzahl der unehelichen Geburten stieg sprunghaft an. Die Kriminalität nahm zu. Das Vertrauen in die Institutionen brach zusammen.
    Der Staat musste eingreifen und versuchen, die Ordnung wiederherzustellen. Der britische Philosoph Phillip Blond schreibt, die individualistischen Revolutionen hätten keine offenen, freien Gesellschaften hervorgebracht, sondern atomisierte Gesellschaften erzeugt, in denen der Staat expandiert, um die Lücken zu füllen, die durch die soziale Desintegration entstehen. Je weniger informelle soziale Zwänge es in einer Gesellschaft gibt, umso mehr formale staatliche Gewalt ist erforderlich. In Großbritannien kam es zu einem massiven Anstieg der Kriminalität, in dessen Folge vier Millionen Überwachungskameras installiert wurden. 3 Stadtviertel zerfielen, und der Sozialstaat griff ein, wodurch er die noch verbliebenen Netzwerke sozialer Unterstützung absorbierte oder verdrängte. Ein taumelnder Markt, der nicht

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