Das soziale Tier
durch tradierte informelle Normen eingeschränkt wird, musste durch strenge Aufsichtsbehörden kontrolliert werden. So schreibt Blond: »Sehen wir uns doch die Gesellschaft an, in der wir heute leben: Wir sind eine gespaltene Nation, ein bürokratischer, zentralistischer Staat, der seine Autorität über eine zunehmend zersplitterte, entmächtigte und isolierte Bürgerschaft ausübt.« 4
Ohne einen gesunden sozialen Zusammenhalt kam es zu einer politischen Polarisierung. Eine Partei wurde zum Inbegriff des Staates, die andere repräsentierte den Markt. Eine Partei versuchte, Macht und Geld zum Staat hin zu verschieben, die andere wollte diese Dinge auf Gutscheine und andere Marktmechanismen verlagern. Beide vernachlässigten und ignorierten die dazwischenliegenden Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft.
In sozial ausgelaugten Nationen begannen viele Menschen ihre persönliche Identität entsprechend ihrer politischen Splittergruppe auszuformen. Sie hatten sonst nichts, woran sie sich hätten orientieren können. Politiker und Polemiker in den Medien nutzten dieses psychische Vakuum aus und verwandelten Parteien in Sekten, die absolute Loyalität zu ihrer Gemeinschaft verlangten und belohnten.
Sobald die Politik zu einem Wettstreit wurde, in dem eine Identitätsgruppe einer anderen feindlich gegenüberstand, waren keine Kompromisse mehr möglich. Alles wurde zu einem Statuskrieg zwischen »uns« und »ihnen«. Schon ein kleines Zugeständnis galt als moralische Kapitulation. Diejenigen, die versuchten, Beziehungen über Parteigrenzen hinweg aufzubauen, wurden geächtet. Bei Politikern war die Loyalität zur eigenen Partei stärker als die Loyalität zu Institutionen wie dem Senat oder dem Repräsentantenhaus. In der Politik ging es nicht länger um Kompromisse, vielmehr war es ein Kampf um Ehre und um die Vorrangstellung der eigenen Gruppe. Die extreme parteipolitische Polarisierung ließ das Vertrauen der Bürger in die Regierung und die politischen Institutionen zusammenbrechen.
In einer sozial dicht vernetzten Gesellschaft können die Menschen die Kette der Institutionen überschauen, die die Familie mit dem Viertel, das Viertel mit der Stadt, die Stadt mit regionalen Verbänden, regionale Verbände mit nationalen Verbänden und nationale Verbände mit der US -Bundesregierung verbindet. In einer dissozialen Gesellschaft ist diese Kette zerrissen und mit ihr das Gefühl der Verbundenheit. Vater Staat wirkt fremd und zugleich zudringlich. Die Menschen verlieren den Glauben an die Fähigkeit der Regierung, meistens das Richtige zu tun, und sie entwickeln eine zynische und sarkastische Einstellung den führenden Politikern gegenüber.
Statt durch brüderliche Beziehungen verbunden zu sein und gelegentlich dem Aufruf zu einem gemeinsamen Opfer Folge zu leisten, setzt sich eine zynische Mentalität nach dem Motto »Nimm dir, was du kannst, bevor es sich die anderen unter den Nagel reißen« durch. Dies führt letztlich zu sprunghaft ansteigenden Staatsschulden und einer Bevölkerung, die nicht mehr gewillt ist, das Opfer von Steuererhöhungen oder von Ausgabenkürzungen, wie es eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik verlangt, auf sich zu nehmen. Keine Seite traut der anderen, dass sie ihre Zusagen im Rahmen eines Kompromisses einhält. Keine Partei glaubt, dass die andere sich ehrlich an einem gemeinsamen Opfer beteiligen würde. Ohne soziales Vertrauen verkommt das politische System zur Schaubühne eines brutalen Verdrängungskampfs.
Die weiche Seite
Harold war der Ansicht, dass die kognitive Revolution das Zeug dazu hatte, diese individualistischen politischen Philosophien und die daraus erwachsenden politischen Strategien hinter sich zu lassen. Die kognitive Revolution zeigte, dass Menschen das Produkt sozialer Beziehungen sind. Die Gesundheit einer Gesellschaft hängt von der Gesundheit dieser Beziehungen ab, nicht von dem Ausmaß, in dem sie die individuelle Wahlfreiheit maximiert.
Aus diesem Grund sollte Freiheit nicht das höchste Ziel der Politik sein. Im Zentrum jeglicher politischer Aktivität sollte letztlich der Charakter der Gesellschaft stehen. Politische, religiöse und gesellschaftliche Institutionen beeinflussen die unbewusst ablaufende Entscheidungsfindung, die unserem Verhalten zugrunde liegt. Sie können entweder Rahmenbedingungen schaffen, die moralisches Handeln befördern, oder sie können Rahmenbedingungen schaffen, die dieses untergraben. Während die rationalistische Epoche das
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