Das soziale Tier
nutzenmaximierende Individuum ins Zentrum des politischen Denkens gerückt hatte, würde die nächste Ära, so glaubte Harold, die Gesundheit sozialer Netzwerke in den Mittelpunkt des Denkens stellen. Eine Ära war ökonomie-zentriert. Die nächste wäre sozio-zentriert.
Die sozio-zentrierten geistigen Strömungen würden, so seine Hoffnung, den Diskurs über Charakter und moralisches Handeln wieder in den Mittelpunkt des politischen Lebens rücken. Man kann Geld in sozial schwache Regionen pumpen, aber ohne eine Kultur, die Selbstbeherrschung fördert, bleibt die soziale Mobilität völlig unzureichend. Man kann Steuern erhöhen oder senken, aber ohne Vertrauen und Zuversicht werden keine Unternehmen entstehen und Menschen werden nicht in andere Menschen investieren. Man kann Wahlen abhalten, aber ohne verantwortungsbewusste Bürger wird es keine florierende Demokratie geben. Nachdem er sein ganzes Berufsleben über Public Policy – Staats- und Verwaltungswissenschaften – gearbeitet und publiziert hatte, gelangte der Kriminologe James Q. Wilson zu folgender zentralen Erkenntnis: »Im Grunde streben wir in fast jedem Bereich des öffentlichen Interesses danach, Menschen zu moralischem Handeln zu bewegen, egal, ob es sich um Schüler, Menschen, die Sozialhilfe beantragen, Personen mit hohem Delinquenzrisiko oder Wähler und Amtsträger handelt.« 5
An die Wand seines Büros hatte Harold ein Zitat geheftet, das von Benjamin Disraeli stammt: »Die geistige Natur des Menschen ist stärker als Gesetzbücher oder Verfassungen. Keine Regierung hat Bestand, die dies nicht als ihre Grundlage anerkennt, und kein Gesetz, das nicht dieser Grundlage entspringt, wird überdauern.« 6
Letzten Endes kam es auf den Charakter an, und das bedeutete, dass es letztlich auf die Qualität sozialer Beziehungen ankam, weil Beziehungen den Charakter formen. Das Leben und die Politik sind deshalb so schwer zu meistern, weil Beziehungen die wichtigsten, aber auch die am schwersten zu verstehenden Dinge sind.
Kurzum, Harold kam in eine politische Welt, in der Menschen es gewohnt waren, in nüchternen, mechanistischen Kategorien zu denken. Er dachte, er könne vielleicht etwas Positives bewirken, wenn er hier emotionale und soziale Perspektiven einbringen würde.
Sozialismus
Als sich Harold mit der Frage befasste, wie sich seine grundlegenden Ansichten in der Welt politischer Prozesse und Inhalte umsetzen ließen, bedauerte er den Umstand, dass das Wort »Sozialismus« bereits mit Beschlag belegt war. Die Denker des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich selbst Sozialisten genannt hatten, waren im Grunde keine Sozialisten. Sie waren Etatisten, die den Staat der Gesellschaft überordneten.
Echte Sozialisten dagegen würden die Gesellschaft an erste Stelle setzen. Er stellte sich vor, wie die kognitive Revolution kommunitaristische Politikstile fördern könne. Ein Schwerpunkt sollte auf der Wirtschaft liegen. Hatten Menschen in verschiedenen Gesellschaftsschichten das Gefühl, bei einem gemeinsamen Unternehmen mitzuwirken, oder waren die Abstände zwischen den Schichten zu groß? Ein weiterer Schwerpunkt sollte die gemeinsame Kultur sein. Brachte sie die Grundwerte der Gesellschaft zum Ausdruck und bekräftigte sie diese selbstbewusst? Spiegelten sich diese Grundwerte in den Institutionen der Nation wider? Passten sich neue Einwanderer erfolgreich an? In der politischen Sphäre, die Harold vorschwebte, würden Konservative betonen, dass es für den Staat schwierig sei, Kultur und Charakter zu verändern. Liberale würden behaupten, dass man es trotzdem auf pragmatische Weise versuchen müsse. Beide würden die Sprache der Brüderlichkeit sprechen und uns das Gefühl geben, dass wir in all dem eng zusammenhalten müssten.
Harold wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er sich selbst als einen Liberalen oder als einen Konservativen bezeichnen sollte. Eine seiner Leitmaximen stammte aus einem berühmten Zitat von Daniel Patrick Moynihan: »Die zentrale Wahrheit des Konservatismus besteht darin, dass die Kultur, nicht die Politik, den Erfolg einer Gesellschaft bestimmt. Die zentrale Wahrheit des Liberalismus besteht darin, dass die Politik eine Kultur verändern und vor sich selbst retten kann.« 7
Er wusste, dass es seine Aufgabe in Washington war, die Menschen dort davon zu überzeugen, dass Charakter und Kultur tatsächlich das Verhalten prägen und dass die Regierung, in begrenztem Umfang, Kultur und Charakter gestalten könne. Die Macht des
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