Das soziale Tier
Oftmals sind sie im Niemandsland zwischen Tradition und Moderne gefangen. Sie steigern sich in archaische Reinheitsvorstellungen hinein, die ihrem Leben Sinn geben, und ziehen in den gewalttätigen Dschihad, weil dieser sie mit etwas verbindet. Bevor sie sich einer Terrorgruppe anschließen, sind sie in der Regel nicht politisch aktiv, aber auf der Suche nach einem umfassenden Glauben, der ihrem Dasein ein Ziel und eine Struktur verleiht. Die Entscheidung für den Terrorismus lässt sich nur dann verhüten, wenn es etwas gibt, das ihnen einen alternativen Weg zur eigenen Erfüllung aufzeigt.
Anschließend verfasste Harold einen Aufsatz über Militärstrategie, den eigentlichen Kern des »Kanonen und Gemetzel«-Machismus. Harold erklärte, dass Offiziere im Irak und in Afghanistan herausgefunden hatten, dass man einen Aufstand nicht dadurch niederschlagen kann, dass man auf dem Schlachtfeld möglichst viele Rebellen tötet. Der einzige Weg zum Sieg, so hatten sie gelernt, führt über eine Aufstandsbekämpfungsstrategie namens COIN , bei der es als Erstes darum geht, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Die Soldaten und die Marines fanden heraus, dass es nicht ausreichte, eine Ortschaft zu sichern; sie mussten sie anschließend auch halten, damit sich die Bewohner sicher fühlen konnten; sie mussten Schulen, medizinische Einrichtungen, und Gerichte bauen sowie Bewässerungsgräben anlegen; sie mussten Gemeinderäte wieder einberufen und den Dorfältesten Machtbefugnisse übertragen. Erst wenn dieser Prozess der Staatsbildung auf einem guten Weg war, waren die lokalen Gemeinschaften hinreichend stark und geschlossen, um ihnen Informationen über den Feind zu liefern und ihn abzuwehren. Harold wies darauf hin, dass der Erfolg der härtesten politischen Aktivität, der Kriegführung, von den weichsten sozialen Fertigkeiten abhing – vom Zuhören, Verstehen und von der Vertrauensbildung. Man geht aus einem solchen Krieg nicht als Sieger hervor, indem man möglichst viele Feinde tötet, sondern indem man erfolgreich Gemeinschaften aufbaut.
In seinem nächsten Aufsatz beschäftigte Harold sich mit der globalen Aids-Politik. Der Westen hatte enorm viel Fachwissen zur Lösung dieses Problems aufgeboten und Medikamente entwickelt, die bei der Bekämpfung dieser Seuche hilfreich waren. Aber die Wirksamkeit dieser Medikamente blieb beschränkt, wenn die Menschen weiterhin risikoreiche sexuelle Praktiken ausübten.
Harold wies darauf hin, dass Fachwissen allein keine Verhaltensänderungen herbeiführt. 10 Informationskampagnen sind notwendig, doch sie reichen nicht aus. Erhebungen zeigen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung in den am stärksten betroffenen Ländern die Gefahren von HIV versteht, sich aber trotzdem riskant verhält. Die Bereitstellung von Kondomen ist notwendig, aber nicht genug. Die meisten Menschen in diesen Ländern haben Zugang zu Kondomen, doch das bedeutet nicht, dass sie sie auch tatsächlich benutzen, wie steigende oder stabile Ansteckungsraten zeigen. Auch eine wirtschaftliche Entwicklung ist notwendig, aber nicht ausreichend. Die Personengruppen, die die Erkrankung am stärksten verbreiten – häufig Bergarbeiter oder LKW -Fahrer –, verdienen vergleichsweise gut. Die Bereitstellung von Gesundheitseinrichtungen ist ebenfalls notwendig, aber unzureichend. Harold beschrieb eine Klinik in Namibia, in der 858 Frauen behandelt wurden. 11 Nach einjährigen Bemühungen konnten sie nur fünf ihrer männlichen Partner dazu bewegen, sich dort testen zu lassen. Obwohl es für die Männer einen frühen Tod bedeutete, weigerten sie sich, die Klinik aufzusuchen. In ihrer Kultur gingen Männer nicht einmal in die Nähe von Krankenhäusern.
Harold besuchte ein Dorf in Namibia, in dem alle Menschen mittleren Alters an Aids gestorben waren. Die Kinder hatten ihre Eltern bis zum Schluss gepflegt. Doch obwohl ihnen das abschreckende Beispiel ihrer Eltern plastisch vor Augen stand, wiederholten sie die gleichen Verhaltensweisen, die zum Tod ihrer Eltern geführt hatten. Harold wies darauf hin, dass dieses Verhalten nicht nur jeglicher Logik widersprach, sondern auch dem Prinzip eines rationalen Egoismus, wie es gewöhnlich verstanden wird. Jene Programme, die tatsächlich Verhaltensänderungen bewirkten, konzentrierten sich nicht in erster Linie auf Logik und Eigeninteresse; die erfolgreichsten Programme setzten an einem ganz anderen Punkt an. Sie versuchten, nicht nur die Einstellung zum geschützten
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