Das soziale Tier
Armutsbekämpfung aus, dass sie jedem Bedürftigen auch einen Scheck über 15 000 Dollar pro Jahr aushändigen könnten. Eine Mutter mit zwei Kindern würde jährlich einen Scheck über 45 000 Dollar erhalten, wenn man alle Transferleistungen in ihren Geldwert umrechnete. 19
Aber Geld kann das Problem der Ungleichheit nicht lösen, weil Geld nicht die maßgebliche Ursache des Problems ist. Das Problem ist im Bereich der individuellen Entwicklung bewusster und unbewusster psychischer Strukturen angesiedelt. Harold brauchte seine Erziehung nur mit der von Erica zu vergleichen, um dies zu erkennen. Manche Kinder werden in einer Atmosphäre groß, die die Entwicklung von Humankapital fördert – Bücher, Diskussionen, Vorlesen, Fragen, Gespräche darüber, was sie in Zukunft tun wollen –, während andere Kinder in einem zerrütteten Umfeld aufwachsen. Wenn man Kindern, die in einen Kindergarten in einem wohlhabenden Viertel gehen, einen Teil von einer Geschichte vorliest, kann etwa die Hälfte von ihnen vorhersagen, was in der Geschichte als Nächstes geschehen wird. Liest man die gleiche Passage Kindern aus sozial schwachen Vierteln vor, können nur etwa zehn Prozent den Gang der Geschichte zutreffend vorhersagen. 20 Die Fähigkeit, Muster zu erkennen und daraus Vorhersagen über die Zukunft abzuleiten, ist von entscheidender Bedeutung für zukünftigen Erfolg.
Im Jahr 1964, bevor das kognitive Zeitalter so richtig angefangen hatte, waren sich reiche und arme Familien in demografischer Hinsicht weitgehend ähnlich; das bedeutet, dass Kinder unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern mit ähnlichen Zukunftschancen und Fähigkeiten ins Erwachsenenalter starteten. In dem Maße aber, wie die Anforderungen an die mentale Verarbeitungskapazität wuchsen, tat sich eine Schere auf, denn besser ausgebildete Kinder wachsen in anderen Umgebungen auf als schlechter ausgebildete Kinder. Besser ausgebildete Kinder leben in einem Netz positiver Rückkopplungsschleifen. Hohe Qualifikation und intakte Familien führen zu wirtschaftlichem Erfolg, der ein stabiles Familienleben fördert, das wiederum dem Erwerb von Kompetenzen förderlich ist und den zukünftigen ökonomischen Erfolg erleichtert. Kinder mit geringem Bildungsniveau leben in einem Netz negativer Rückkopplungsschleifen. Niedrige Qualifikation und zerrüttete Familienverhältnisse erzeugen ökonomischen Stress, der das Zerbrechen der Familie wahrscheinlicher macht, was wiederum den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie wirtschaftliche Sicherheit noch schwerer erreichbar werden lässt.
Heute leben Menschen mit College-Abschluss und Menschen ohne College-Abschluss in zwei unterschiedlichen Welten. Über zwei Drittel der Mittelschichtkinder wachsen in intakten Familien mit zwei Elternteilen auf, während weniger als ein Drittel der Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen in solchen Familien aufwachsen. Etwa die Hälfte der Studenten an sogenannten Community Colleges sind schwanger gewesen beziehungsweise haben jemanden geschwängert. 21 Isabel Sawhill hat errechnet, dass die Armutsrate um etwa ein Viertel niedriger wäre, wenn die Familienstrukturen heute noch genauso wären wie im Jahr 1970. 22
Auch große Einstellungsunterschiede haben sich aufgetan. Wie Robert Putnam gezeigt hat, vertrauen Menschen mit College-Bildung viel eher den Menschen in ihrem Umfeld. Sie glauben viel eher, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand haben, und bemühen sich aktiver darum, ihre Ziele zu erreichen.
Menschen auf beiden Seiten der Trennlinie haben in der Regel die gleichen Wünsche. Die Hochqualifizierten und die Geringqualifizierten wollen in stabilen Zweierbeziehungen leben und Kinder haben. Sie streben in der Regel nach College-Abschlüssen und wollen, dass ihre Kinder es einmal weiter bringen als sie selbst. Es ist nur so, dass die Höhergebildeten mehr emotionale Ressourcen besitzen, um ihre Visionen in die Tat umzusetzen. Wenn man heiratet, bevor man Kinder bekommt, einen Highschool-Abschluss macht und Vollzeit arbeitet, wird man mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent nicht in Armut leben. 23 Aber viele Menschen sind nicht in der Lage, diese Dinge zu erreichen.
Als Harold seine Forschungen über Armut, zerrüttete Familienverhältnisse und andere Fragen im Zusammenhang mit sozialer Mobilität durchführte, wollte er die Leute manchmal einfach nur schütteln und sie ermahnen, sich am Riemen zu reißen. Geh zum Vorstellungsgespräch. Mach den Studierfähigkeitstest,
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