Das soziale Tier
Lebendigkeit. Zu Beginn ihrer Karriere war sie mal kurz nach Los Angeles geflogen, in einer Hotelsuite abgestiegen, die der Klient für sie reserviert hatte, und war dann, überwältigt von dem ganzen Luxus, durch die Räume gewandert. In jenen Tagen pflegte sie in fast jeder Stadt, die sie besuchte, einen zusätzlichen Tag zu buchen, um die Museen und historischen Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Sie konnte sich an die einsamen Rundgänge durchs Getty-Museum oder die Frick-Sammlung erinnern und an das Gefühl der Verzückung, das sie beim Betrachten der Kunstwerke überkommen hatte. Sie erinnerte sich auch an die besondere Energie, die diese Hochstimmung in ihr freigesetzt hatte – die Nacht, in der sie sich, einen Roman unter den Arm geklemmt, in Venedig verlaufen oder als sie einen Rundgang durch die alten Herrenhäuser in Charleston gemacht hatte. Aus irgendeinem Grund kam es nicht mehr dazu. Sie buchte nicht mehr die zusätzlichen Besichtigungstage am Ende ihrer Geschäftsreisen – sie hatte keine Zeit dafür.
In dem Maße, wie ihre Karriere sie immer intensiver beansprucht hatte, hatte sie ihre kulturellen Aktivitäten hintanstellen müssen. Ihr Geschmack in der Dicht- und Schauspielkunst, aber auch in der bildenden Kunst war von anspruchsvoll über durchschnittlich auf trivial gesunken. »Ab 50«, schreibt der Neurowissenschaftler Andrew B. Newberg von der University of Pennsylvania, »suchen wir tendenziell weniger nach jenen intensiven oder transzendenten Erfahrungen, auf die wir in unserer Jugend so versessen waren. Stattdessen streben wir eher nach subtilen spirituellen Erlebnissen und Verfeinerungen unserer grundlegenden Anschauungen.« 9
Außerdem war Erica durch ihre Arbeit in eine gewissermaßen »prosaische« Richtung gezogen worden. Sie hatte ein großes Talent für alles, was mit Organisation und praktischer Effizienz zu tun hatte. Dies hatte sie im Verlauf ihres Lebens wie von selbst in die höchsten wirtschaftlichen und politischen Führungspositionen gehievt. Es hatte sie in eine Welt der optimalen Prozessabläufe katapultiert.
Die Zahl ihrer Bekannten hatte im Lauf der Jahre in dem Maße zugenommen, wie die Zahl ihrer wahren Freunde abgenommen hatte. Bei der Grant Longitudinal Study hat man herausgefunden, dass Menschen, die in ihrer Kindheit vernachlässigt wurden, im Alter mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit keine Freunde haben (die mentalen »Arbeitsmodelle« tauchen also gewissermaßen unter und kommen im Lauf des Lebens dann wieder zum Vorschein). 10 Erica war nicht allein. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, in einer Art geselliger Einsamkeit zu leben. Sie war umgeben von einer veränderlichen Masse von Halbfreunden, aber sie hatte keinen kleinen Kreis enger Freunde.
Mit anderen Worten: Sie war oberflächlicher geworden mit den Jahren. In der Öffentlichkeit war sie aktiv, aber privat nachlässig gewesen. Sie hatte im Lauf ihrer Karriere die neuronalen Schaltkreise in ihrem Gehirn in einer Weise reorganisiert, die vielleicht notwendig war, um beruflich erfolgreich zu sein, die ihr aber jetzt, wo ihr Verlangen nach weltlichem Erfolg gestillt war, keine innere Befriedigung verschaffte.
Als sie in den Ruhestand trat, überkam sie ein Gefühl allgemeiner Benommenheit. Es war so, als tobe eine große Schlacht in ihr, von der sie bislang nichts mitbekommen hatte, eine Schlacht zwischen den Kräften der Seichtigkeit und den Kräften der Tiefgründigkeit. Dabei waren die Kräfte der Seichtigkeit kontinuierlich immer weiter vorgerückt.
Und dann kam selbstverständlich der Styx in Sichtweite – der Tod, das Erlöschen, die äußerste Grenze. Erica glaubte nicht, dass er sie oder Harold schon bald ereilen würde. (Bestimmt nicht. Sie waren beide völlig gesund. Beide konnten auf Verwandte verweisen, die über 90 Jahre alt geworden waren, auch wenn solche tröstlichen Verweise auf betagte Verwandte in Wirklichkeit praktisch nichts bedeuteten.)
Nichtsdestotrotz starben ihre älteren Bekannten nach und nach weg. Sie konnte, wenn sie wollte, ins Internet gehen und ihre Erkrankungsrisiken recherchieren – jede fünfte Frau in ihrem Alter erkrankt an Krebs; jede sechste bekommt ein Herzleiden, jede siebte Diabetes. Es war ein bisschen so, wie wenn man in Kriegszeiten lebte: Alle paar Wochen starb ein weiteres Mitglied ihrer sozialen Kompanie.
Dies erschreckte und belebte sie gleichermaßen. (Sie schien ständig in einem Zustand gemischter Emotionen zu leben.) Das Herannahen des
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