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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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plastischer sind als jene aus irgendeiner anderen Lebensphase. 6 Er fragte sich, wie zuverlässig diese Erinnerungen wohl waren.
    Als George Vaillant, ein Studienleiter der Grant Longitudinal Study, einem älteren Studienteilnehmer Berichte über seine Kindheit und Jugend zusandte, um bestimmte Fakten noch mal zu überprüfen, schickte dieser die Berichte mit folgender Bemerkung zurück: »Sie müssen diese Berichte an die falsche Person geschickt haben.« Er konnte sich schlichtweg an keines der Ereignisse aus seinem Leben erinnern, das damals aufgezeichnet worden war. 7 Ein Teilnehmer einer anderen Langzeitstudie war in seiner Kindheit von seinen Eltern brutal misshandelt worden, was gut dokumentiert war. Doch mit 70 Jahren erinnerte er sich an seinen Vater als einen »guten Familienvater« und an seine Mutter als »die liebenswürdigste Frau auf Erden«. 8
    Harold empfand auch so etwas wie negative Freude. Nachdem er sein ganzes Leben damit verbracht hatte, sich auf Dinge vorzubereiten oder auf etwas hinzuarbeiten, war er endlich frei von der Last der Jahre. »Wie wohltuend der Tag doch ist«, schrieb William James einmal, »an dem wir aufhören, jung – oder schlank – sein zu wollen.« 9
    Obwohl Harold alt war und seine Lebensflamme langsam erlosch, quälte ihn ein tiefes geistiges Unbehagen. Ohne überhaupt richtig darüber nachzudenken, betrachtete er, wie die meisten von uns, das Leben nicht nur als Folge von Erfahrungen und Erlebnissen, sondern auch als eine Frage, die es zu beantworten galt. Wozu das alles? Da auf der Veranda sitzend, in der Abenddämmerung seines Lebens, machte Harold sich daran, den Sinn seines Daseins zu verstehen, alles auf einen Punkt zu bringen.
    In seinem berühmten Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen schreibt Viktor Frankl: »Die Suche des Menschen nach Sinn ist die wichtigste Triebfeder in seinem Leben.« Er zitiert das Diktum Nietzsches: »Wer weiß, warum er lebt, kann fast jedes Wie ertragen.« 10 Dann weist Frankl auf einen zentralen Punkt hin: Es bringt nichts, abstrakt darüber nachzudenken, was das Leben im Allgemeinen bedeutet. Der Sinn des eigenen Lebens lässt sich nur innerhalb der spezifischen Umstände des eigenen Lebens verstehen.
    Harold dachte zurück an sein Leben als Sohn, Ehemann, Unternehmensberater und Historiker, und er fragte sich, welche Frage das Leben ihm gestellt hatte. Er suchte nach etwas, das er als die Berufung oder Mission seines Lebens bezeichnen könnte. Er glaubte, dieses Vorhaben wäre leicht, aber je intensiver er nach einem Schlüssel zu seinem Leben suchte, umso schwerer fiel es ihm, einen zu finden. Wenn er sein Leben gründlich und ehrlich prüfte, dann musste er sich eingestehen, dass es aus einer Reihe unverbundener Ereignisse bestanden hatte. Manchmal war Geld für ihn sehr wichtig gewesen, dann wieder hatte es ihm gar nichts bedeutet. Manchmal war er ehrgeizig gewesen, dann wieder überhaupt nicht. Einige Jahre lang trug er die Maske eines Geisteswissenschaftlers, dann wieder die eines Geschäftsmanns. Wer war das wahre Selbst hinter den Masken? In seinem Buch Wir alle spielen Theater behauptet Erving Goffman, dass es überhaupt nur Masken gebe. 11
    Wissenschaftler und Schriftsteller haben versucht, die Entwicklung des Menschen in bestimmte Schemata zu pressen. Abraham Maslow baute seine Bedürfnispyramide beginnend bei den körperlichen Bedürfnissen über Sicherheit, Liebe, Anerkennung bis hin zur Selbstverwirklichung auf. Doch ein Großteil der neueren Forschungen lässt Zweifel daran aufkommen, ob sich das menschliche Leben in solche wohlgeordneten Schemata pressen lässt. Es gibt keine einfache Weiterentwicklung, so wie Maslow sie beschrieben hat. 12 An manchen Tagen war Harold niedergeschlagen und gelangte zu dem Schluss, dass der Sinn des Lebens einfach nicht zu ergründen sei. Man nehme nur so etwas Einfaches wie den Kauf eines Autos. War für die Wahl seines letzten Autos die Form der Karosserie entscheidend, der lobende Artikel im Verbrauchermagazin Consumer Reports, irgendeine vage Vorstellung, die er vom Image der Automarke hatte, sein Eindruck bei der Probefahrt, der vermeintliche Prestigewert des Autos oder der Preisnachlass des Händlers? All diese Dinge mussten eine Rolle gespielt haben, aber welchen Anteil genau die einzelnen Faktoren hatten, das konnte er nicht sagen. Zwischen den Faktoren, die in seine Wahlentscheidung eingeflossen waren, und der tatsächlichen Wahl, die er beim Händler traf, bestand eine

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