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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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schrecklichen Stunden füllten die Schmerzen sein ganzes Bewusstsein aus, so wie ein Gas den verfügbaren Raum in einem Behälter ausfüllt. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie es war, keine Schmerzen zu haben. Waren sie aber vergangen, so konnte er sich an das Schmerzgefühl selbst auch nicht mehr erinnern. Er hatte nur eine kalte verkopfte Vorstellung davon.
    Meistens dachte Harold an Menschen. Visuelle Erinnerungen schossen ihm durch den Sinn – eine Spielkameradin und ihr Spielzeugauto im Schnee; seine Eltern, die ihm ein neues Haus zeigten; ein Arbeitskollege an einem schrecklichen Tag, der sein rotes Gesicht über einem Spülbecken in der Toilette wäscht –, aber er hatte auch unerklärliche Gedächtnislücken. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er mit seinen Eltern am Esstisch gesessen hatte, obwohl das tagtäglich der Fall gewesen sein musste.
    Harolds Gedächtnis funktionierte assoziativ. Er erinnerte sich daran, wie er in der vierten Klasse beim Völkerball einen Spieler abwarf. Das ließ ihn an seine Lehrerin in diesem Schuljahr denken, in die er verknallt gewesen war. Er spürte ihre Gegenwart, konnte sich aber ihr Gesicht nicht mehr richtig vorstellen. Sie hatte langes dunkles Haar gehabt. Sie war groß gewesen oder hatte zumindest so gewirkt. Das Einzige, was er deutlich empfand, war die Aura ihrer Schönheit und seine damaligen Gefühle für sie.
    Harold bat Erica, ihm Kartons mit alten Erinnerungsstücken zu bringen – Fotos, Blätter und Dokumente, die sie ungeordnet im Lauf der Jahrzehnte gesammelt hatten. Er durchstöberte die Kartons. Selbst in jüngeren Jahren war er so geistesgegenwärtig gewesen, nur die schönen Erinnerungsstücke aufzuheben, sodass die schlechten Zeiten völlig verblassten.
    Als er in diesen alten Sachen herumkramte, war er ein wenig durcheinander. Oder betrunken. Er hatte nämlich wieder angefangen, tagsüber zu trinken. Gefühle und Empfindungen strömten durch ihn hindurch. Er erinnerte sich an Gedichte. Bilder von Olympischen Spielen und Wahlen und nationalen Ereignissen jagten ihm durch den Kopf. Er konnte sich in die Atmosphäre und die Moden der Vergangenheit zurückversetzen – wie die Menschen damals ihr Haar trugen, welche Witze sie sich erzählten.
    Er saß einfach da und spielte mit der Zeit. Psychologen haben einen Terminus dafür, wenn ältere Menschen ihre Gedanken nicht mehr richtig kontrollieren können und in ihren sprachlichen Äußerungen ständig abschweifen. Sie nennen das »abschweifende Verbosität«. Auch Harold litt an diesem Gebrechen, nur dass es sich in seinem Innern ereignete. In einer Sekunde erinnerte er sich daran, wie er als kleiner Junge in den Wellen bodysurfte, in der nächsten Sekunde erinnerte er sich an eine Fahrt, die er letzte Woche gemacht hatte.
    Es gibt eine alte Sage von einem Mönch, der einen Spaziergang durch einen Wald machte und stehen blieb, um dem wunderschönen Gesang eines kleinen Vogels zu lauschen. Als er in sein Kloster zurückkehrte, traf er dort nur auf Fremde. Er war 50 Jahre fort gewesen. An manchen Nachmittagen hatte Harold das Gefühl, dass seine persönliche Zeitskala aus dem Lot geraten war.
    Harold fühlte sich durch seine Erinnerungen verjüngt. Im Jahr 1979 führte die Psychologin Ellen Langer ein Experiment durch, in dem sie ein altes Kloster in Peterborough im Bundesstaat New Hampshire mit Requisiten aus den 1950er Jahren ausstaffierte. 5 Sie lud Männer, die in ihren Siebzigern und Achtzigern waren, ein, eine Woche lang in dem Kloster zu bleiben. Die Männer schauten sich alte Ed-Sullivan-Shows an, hörten Nat King Cole im Radio und sprachen über das Meisterschaftsspiel des Jahres 1959 zwischen den Baltimore Colts und den New York Giants. Am Ende der Woche hatten sie im Schnitt drei Pfund zugelegt und sahen jünger aus. Ihr Hörvermögen und ihre Gedächtnisleistung hatten sich verbessert. Ihre Gelenke waren flexibler, und 63 Prozent schnitten beim Intelligenztest besser ab. Experimente wie diese sind, wissenschaftlich gesehen, nicht besonders aussagekräftig, aber Harold fühlte sich besser, wenn er in der Vergangenheit lebte. Die Schmerzen verringerten sich. Die Freude nahm zu.
    Sinnsuche
    Harold dachte lange und intensiv über seine Jugend nach, die Zeit, als er etwa 16 war. In diese Alterspanne fällt der sogenannte »Reminiscence Bump« (Erinnerungshügel), der deshalb so heißt, weil Erinnerungen aus der Zeit zwischen der späten Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter

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