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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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herauszukommen. Erica nahm ihn dann bei den Händen, lehnte sich zurück, wie ein Matrose, der sich gegen die Zugkraft eines Segels lehnt, und zog ihn in den Stand.
    Als sich seine Gebrechlichkeit verschlimmerte, war Harold rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Er war praktisch an seinen Sessel gefesselt. Nachdem ihm klarwurde, dass er am Leben auf der Erde nie mehr aktiv, sondern nur noch als ein mehr und mehr verfallender Beobachter teilnehmen könnte, machte er drei depressive Phasen durch. Mehrere Monate lang lag er nachts wach und malte sich wie im Wahn die kommenden Schrecken aus: Chirurgen, die seinen Brustkorb öffneten, Blut, das in seinem Rachen gurgelte und ihm die Luftzufuhr abschnürte, wie er nicht mehr sprechen konnte und Teile seines Gehirns ausfielen, wie er erst Extremitäten und schließlich das Seh- und Hörvermögen verlor.
    Auf Partys und zu gesellschaftlichen Ereignissen konnte er nicht mehr gehen. Er saß nur noch vor der Wand. Allerdings kümmerten sich seine Frau und seine Pflegerinnen mit einer Fürsorge, Geduld und Hingabe um ihn, die all seine Erwartungen übertrafen. Ihre Bemühungen waren ihm umso kostbarer, als er wusste, dass er sie nicht würde vergelten können. Er musste seinen männlichen Stolz, seinen Egoismus, sein Gefühl der Selbstbeherrschung aufgeben und sich ganz auf ihre Hilfe und ihre Zuneigung verlassen. Zuerst war es schwer, sich einfach ihrer Liebe anzuvertrauen. Zuerst machte ihn ihre Aufmerksamkeit missmutig und ärgerlich. Aber ihre beharrliche Liebe besänftigte ihn. Schließlich stabilisierte sich sein körperlicher Zustand, und seine Stimmung hob sich.
    Er saß auf der Veranda und sah die elementaren Bestandteile und Kräfte der Natur vor sich: Himmel, Gebirge, Bäume, Wasser und Sonne. Forscher haben herausgefunden, dass Sonnenlicht und natürliche Szenerien sich tiefgreifend auf unser Gemüt und unsere Stimmung auswirken können. 2 Menschen in nördlichen Gefilden, wo das Sonnenlicht weniger hell ist, leiden häufiger an Depressionen als Menschen in südlichen Breiten. Das Gleiche gilt für Menschen an den Westgrenzen von Zeitzonen, wo die Sonne später am Morgen aufgeht. Frauen, die über lange Zeiträume ihres Erwerbslebens nachts gearbeitet haben, haben ein höheres Brustkrebsrisiko als jene, die tagsüber arbeiten. Forscher haben festgestellt, dass Krankenhauspatienten in Zimmern mit Aussicht auf die Natur sich etwas schneller zu erholen scheinen als Patienten in Zimmern ohne solche Aussicht. Bei einer Studie in Mailand kam heraus, dass Patienten mit bipolarer Depression, die in nach Osten gehenden Krankenzimmern untergebracht waren, dreieinhalb Tage eher entlassen wurden als Patienten, die in nach Westen liegenden Zimmern lagen. 3
    Harold begann, ein kleines Spiel mit sich selbst zu spielen. Er saß auf der Veranda und betrachtete eine kleine Blume auf der Wiese davor. Er konzentrierte sich auf die Blütenblätter und ihre zarte Schönheit. Dann hob er den Kopf und blickte auf zu den schneebedeckten Gipfeln viele Kilometer entfernt. Plötzlich überkamen ihn völlig andere Empfindungen, als er sie zuvor gehabt hatte – Gefühle der Ehrfurcht, der Überwältigung, der Unterwerfung und der Größe. Ohne sich von der Stelle zu rühren, konnte sein Blick frei zwischen dem Schönen und dem Erhabenen hin und her schweifen.
    Er liebte diese großartigen Aussichten. Sie gaben ihm ein Gefühl der Erhabenheit, der Verbundenheit mit einer heiligen, allumfassenden Ordnung, das Gefühl, Teil eines großartigen Ganzen zu sein. Menschen, die auf dem Land leben, schneiden bei Tests, die das Arbeitsgedächtnis und die Aufmerksamkeit prüfen, besser ab als Menschen in städtischen Lebensräumen. Sie fühlen sich wohler. So schreibt der Philosoph Charles Taylor: »Die Natur zieht uns an, weil sie in gewisser Weise mit unseren Gemütszuständen korrespondiert, sodass sie bestehende Stimmungen widerspiegeln und verstärken oder aber schlummernde wecken kann. Die Natur gleicht einer großen Klaviatur, auf der unsere höchsten Empfindungen gespielt werden. Wir wenden uns ihr zu, so wie wir uns vielleicht der Musik zuwenden, um das Beste in uns hervorzurufen und zu stärken.« 4
    Der Anblick der Berge und Bäume beruhigte und belebte Harold. Aber er befriedigte ihn nicht vollständig. Wie schon andere bemerkt haben, ist die Natur eine Vorbereitung auf den religiösen Glauben, aber sie ist keine Religion.
    Harold hatte noch immer die meiste Zeit über Schmerzen. Während dieser

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