Das soziale Tier
Harold dann mit seiner winzigen Hand ihren kleinen Finger fasste und erneut begann, an ihrer Brust zu saugen, stiegen ihr Tränen der Freude und Dankbarkeit in die Augen.
Kenneth Kaye hat behauptet, menschliche Säuglinge seien die einzigen Säugetier-Jungen, die schubweise trinken. Sie saugen ein paar Sekunden, legen dann eine Pause ein, in der sie die Brustwarze allerdings im Mund behalten, und setzen zur nächsten Runde an. 20 Diese Pause, so vermutet Kaye, veranlasse die Mutter dazu, ihr Baby ganz sanft zu schütteln. Wenn das Baby zwei Tage alt ist, schütteln Mütter es für etwa drei Sekunden. Ist es ein paar Wochen alt, schütteln sie es nur noch zwei Sekunden lang.
Durch diese Bewegungen entstand zwischen Julia und Harold eine Verhaltenskoordinierung mit eigenem Rhythmus. Harold machte eine Pause, Julia schüttelte ihn; Harold machte eine Pause, Julia schüttelte ihn. Es war eine Form von Kommunikation. Als Harold älter wurde, behielt er diesen Rhythmus bei. Er sah sie an und sie sah ihn an. Sie standen in einem engen Dialog miteinander.
Der Rhythmus, der sich zwischen Mutter und Kind entwickelt, hatte fast etwas Musikalisches. Julia, alles andere als eine geborene Sängerin, fing plötzlich an, Harold in den seltsamsten Momenten etwas vorzusingen – aus irgendeinem Grund überwiegend Lieder aus der West Side Story. Morgens las sie ihm aus dem Wall Street Journal vor, und zwar vor allem Artikel über die US -Notenbank. Dabei verfiel sie zu ihrer eigenen Belustigung in Babysprache – jene langsame, überzogen artikulierte, monotone Intonation, die Mütter in sämtlichen Kulturen weltweit benutzen, wenn sie mit ihren Kleinkindern sprechen.
Im Lauf der Monate trainierte Julia immer wieder Harolds Fähigkeit zur Nachahmung von Gesichtsausdrücken. Sie zog eine bestimmte Miene und brachte ihn dann dazu, sie nachzuahmen, bis er so aussah wie irgendeine berühmte Persönlichkeit. Wenn sie ihn finster anblickte, zog er ein Gesicht wie Mussolini. Wenn sie ihn anknurrte und er sie nachahmte, sah er aus wie Churchill. Und wenn sie ihren Mund öffnete und verängstigt dreinsah, zog er eine Miene wie Jerry Lewis. Manchmal, wenn er lächelte, fand sie das regelrecht irritierend. Er lächelte wissend, geradezu verschlagen, wie irgendein Widerling aus einer Studentenverbindung, der heimlich eine Minikamera in ihrer Dusche versteckt hatte.
Harold war so bindungsversessen, dass seine Welt regelrecht zusammenbrechen konnte, wenn ihre Kommunikation unterbrochen wurde. Wissenschaftler haben sogenannte »Still Face«-Experimente durchgeführt. 21 Bei diesen Versuchen unterbrechen Mütter ihre Interaktionen mit ihrem Kind und setzen ein ausdrucksloses Gesicht auf. Auf Säuglinge wirkt dies extrem beunruhigend. Sie verkrampfen sich, schreien und werden sehr unruhig. Sie bemühen sich intensiv darum, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zurückzugewinnen. Wenn die Mutter weiterhin nicht reagiert, werden sie selbst passiv und in sich gekehrt. Das hängt damit zusammen, dass Säuglinge wie in einem Spiegel ihre eigene Befindlichkeit an der Gesichtsmimik der Menschen, die sie anblicken, ablesen und erleben.
Sofern Julia nicht gerade völlig erschöpft war, waren die Interaktionen zwischen ihnen vollkommen aufeinander abgestimmt. Harolds Energie wurde von ihrer Energie reguliert; sein Gehirn wurde nach ihrem Gehirn modelliert.
Mit neun Monaten besaß Harold noch immer kein Bewusstsein seiner selbst, und in vielerlei Hinsicht waren seine Fähigkeiten noch immer sehr begrenzt. Nichtsdestotrotz hatte er getan, was er tun musste, um zu überleben und zu gedeihen. Er hatte eine enge intersubjektive Bindung zu einer anderen Person aufgebaut, und diese Bindung bildete den Nährboden für die Entwicklung all seiner Fähigkeiten.
Es ist verlockend, sich vorzustellen, dass sich der Mensch wie eine Pflanze entwickelt. Man führt dem Samen Nährstoffe zu, und dann entsteht daraus eine individuelle Pflanze. Aber so ist es nicht. Das Säugetiergehirn entwickelt sich nur dann richtig, wenn es soziale Stimuli empfängt. Rattenjunge, die von ihren Müttern geleckt und geputzt werden, haben mehr synaptische Verbindungen als Rattenjunge ohne diese Brutfürsorge. 22 Ratten, die 24 Stunden lang von ihren Müttern getrennt werden, verlieren doppelt so viele Neuronen in der Groß- und Kleinhirnrinde wie Ratten, die nicht getrennt werden. Ratten, die in einer abwechslungsreichen Umgebung aufwachsen, haben 25 Prozent mehr Synapsen als Ratten, die in
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