Das soziale Tier
zugutehalten. Sie ergab sich diesem neuen Lebewesen nicht kampflos.
Einen Gutteil des ersten Jahres stillte Julia Harold in einem Sessel in der Ecke des Kinderzimmers. Bei der traditionellen Babyparty machten ihr ihre Freundinnen – die meisten von ihnen kinderlos – alle möglichen Geschenke, die sie für die gedeihliche Entwicklung eines Babys als unentbehrlich erachteten. Julia bekam akustische und audiovisuelle Baby-Überwachungsapparate, Luftreiniger, Baby-Einstein-Mobiles, Luftentfeuchter, digitale Bilderrahmen, visuell stimulierende Krabbeldecken, Rasseln zur Übung der manuellen Geschicklichkeit und Audiogeräte, die Babys mit beruhigenden Wellenklängen beschallen. Sie saß inmitten all der elektronischen Apparate und gab Harold die Brust wie ein Milchmädchen-Captain-Kirk im Sessel von Raumschiff Enterprise.
Eines Nachts, als Harold etwa sieben Monate alt war, saß Julia mal wieder in besagtem Sessel und stillte Harold. Gedämpftes Nachtlicht erhellte das Zimmer, ringsumher war alles ruhig. Von außen betrachtet sah es nach einem trauten Mutter-Kind-Idyll aus – eine Mutter, die voller Liebe und herzlicher Zuneigung ihrem Kind die Brust gibt. Wenn wir in diesem Moment aber Julias Gedanken hätten lesen können, hätten wir etwas völlig anderes zu hören bekommen: »Scheiße! Scheiße! Scheiße! Ich brauch Hilfe! Würde mir bitte irgendjemand helfen?«
Julia war am Ende ihrer Kräfte, sie fühlte sich ausgelaugt, überfordert und gefangen. In dem Augenblick hasste sie diesen kleinen Mistkerl. Mit Hilfe sanfter Verführungstricks hatte er sich in ihr Herz eingeschlichen, und jetzt, wo er drin war, trampelte er mit seinen kleinkindlichen Springerstiefeln alles nieder.
Er war halb Amor, halb Infanterist. Die Gier dieses unersättlichen kleinen Scheißers kannte keine Grenzen; Harold kontrollierte ihren Schlaf, ihre Aufmerksamkeitsspanne und die Zeit, in der sie sich duschen, ausruhen oder aufs Klo gehen konnte. Er kontrollierte, was sie dachte, wie sie aussah und wann sie heulte. Julia fühlte sich elend und überlastet.
Ein Baby verlangt im Durchschnitt alle 20 Sekunden in irgendeiner Weise die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen. 15 Mütter häufen im ersten Lebensjahr ihrer Sprösslinge ein Schlafdefizit von durchschnittlich 700 Stunden an. 16 Das allgemeine Wohlbefinden der Mutter sinkt um drastische 70 Prozent, während sich ihr Depressionsrisiko mehr als verdoppelt. 17 Bei dem geringsten Unbehagen stieß Harold einen gellenden Schrei aus, der bei Julia einen hysterischen Heulanfall auslöste und Rob wütend und unausstehlich machte.
Derart erschöpft saß Julia also in diesem Sessel und stillte ihren kleinen Sohn, während sie daran dachte, was für eine fette Kuh sie doch geworden war. Ihre Laune wurde immer schlechter. Ihr wurde klar, dass ihr kurze Röcke niemals wieder so gut stehen würden wie vor der Geburt. Auch könnte sie nie mehr nach Lust und Laune tun, was ihr gerade in den Sinn kam. Stattdessen würde sie in die erbitterten Schlachten hineingezogen, die sich bürgerliche Mütter über die richtigen Erziehungsmethoden lieferten. Sie war bereits in Kontakt gekommen mit den fanatischen Anhängerinnen des Stillens (den Super-Möpse-Mammis), den selbstgerechten Kita-Königinnen, die Julias Erziehungsmethoden verändern wollten (allesamt Kreuzritterinnen im Namen des Kindes), und den trübseligen Märtyrer-Müttern, die endlos darüber jammern konnten, was für ein erbärmliches Dasein sie hatten und wie unsensibel ihre Männer und ihre Eltern geworden waren. Auf dem Spielplatz wurde sie in stumpfsinnige, langweilige Elterngespräche verwickelt, die, wie Jill Lepore einmal bemerkte, alle nach dem immergleichen Muster abliefen: 18 Alle Mütter wünschten sich Nachsicht und alle Väter wollten Beifall.
Dem Party-Leben, das ihr so viel Spaß gemacht hatte, konnte sie Lebewohl sagen. Stattdessen sah sie einer düsteren Zukunft entgegen: Schulspeisungen, Recycling-Predigten, Streptokokken-Tests, Ohrinfektionen und Stunden um Stunden, in denen sie darum flehte, ein Nickerchen machen zu können. Die Tatsache, dass Frauen, die Jungen gebären, eine kürzere Lebenserwartung haben, weil das Testosteron der männlichen Föten ihr Immunsystem beeinträchtigen kann, setzte dem Ganzen noch die Krone auf. 19
Miteinander verbunden
Vielleicht eine Sekunde, nachdem ihr Wut und Verzweiflung durch den Kopf geschossen waren, lehnte sich Julia in ihrem Sessel zurück und hielt Harolds Kopf an ihre Nase. Als
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