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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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gewöhnlichen Käfigen aufwachsen. 23
    In den 1930er Jahren untersuchte H. M. Skeels geistig behinderte Waisenkinder, die erst in einem Heim lebten, später aber adoptiert wurden. 24 Nach vier Jahren lag ihr IQ im Schnitt erstaunliche 50 Punkte über dem jener Waisen, die nicht adoptiert worden waren. Bemerkenswert ist dabei insbesondere die Tatsache, dass die adoptierten Kinder keine Nachhilfe und keinen Sonderunterricht erhielten; die Mütter, die sie adoptiert hatten, waren selbst geistig behindert und lebten in einem anderen Heim. Der IQ -Zuwachs verdankte sich allein der mütterlichen Liebe und Zuwendung.
    Mittlerweile strahlte Harold übers ganze Gesicht, wenn Julia das Zimmer betrat. Das war auch gut so, denn Julia war mittlerweile mit den Nerven am Ende. Seit Monaten hatte sie nicht mehr richtig geschlafen. Früher hatte sie sich selbst für relativ ordentlich gehalten, aber inzwischen sah es in ihrem Haus aus wie in einer römischen Villa, in der die Vandalen gehaust hatten. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie die letzte geistreiche Bemerkung gemacht hatte. Doch morgens begrüßte Harold sie mit einem strahlenden Lächeln und trat damit in eine neue Entwicklungsphase ein.
    Eines Tages wurde sich Julia bewusst, dass sie Harold besser kannte als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt. Sie wusste, in wie vieler Hinsicht er sie brauchte; sie wusste, wie schwer es ihm fiel, sich auf eine neue Situation einzustellen. Mit Bedauern spürte sie, dass er sich nach einer Art Verbundenheit mit ihr sehnte, die sie ihm nie würde geben können.
    Dabei hatten sie ja noch kein Wort miteinander gewechselt. Harold sprach nicht. Sie lernten einander hauptsächlich durch Berührungen, Tränen, Blicke, Gerüche und Lachen kennen. Bis dahin hatte Julia immer geglaubt, dass Bedeutungen und Begriffe auf Sprache angewiesen seien, doch jetzt erkannte sie, dass man auch ohne Wörter eine komplexe Beziehung zu einem anderen Menschen haben konnte.
    Spiegelneuronen
    Philosophen streiten sich schon lange über die Frage, wie es Menschen fertigbringen, sich gegenseitig zu verstehen. Einige glauben, wir seien gewissenhafte Theoretiker, die Hypothesen über das Verhalten anderer Menschen aufstellen und diese Hypothesen anhand der Beobachtungsdaten, die wir Minute für Minute aufnehmen, überprüfen. Laut dieser Theorie sind Menschen rationale Wissenschaftler, die fortwährende empirische Daten auswerten. Zwar gibt es eindeutige Belege dafür, dass diese Form der Überprüfung von Hypothesen zu den Methoden gehört, mit denen wir einander zu verstehen suchen, aber die aktuellen Forschungsergebnisse sprechen ganz überwiegend dafür, dass eine andere Theorie Vorrang hat: Wir ahmen andere Menschen unwillkürlich nach und verstehen, was sie empfinden, indem wir das, was sie erleben, in ähnlicher Weise in uns nacherleben. Dieser Auffassung zufolge sind Menschen keine nüchternen Theoretiker, die Urteile über andere Menschen fällen, sondern sie sind eher unbewusst agierende Schauspieler, die andere dadurch verstehen, dass sie die bei ihnen wahrgenommenen Reaktionen teilen oder doch zumindest innerlich nachahmen. Wir funktionieren deshalb in einer sozialen Welt, weil wir uns in die mentalen Zustände anderer Menschen teilweise hineinversetzen und sie verstehen können – einige können das besser, andere schlechter. Menschen verstehen andere in sich selbst, und sie lernen, sich selbst zu verstehen, indem sie die inneren Prozesse wiederholen, die sie bei anderen beobachten.
    Im Jahr 1992 fiel Forschern der Universität in Parma in Italien bei Untersuchungen an Makaken-Gehirnen ein merkwürdiges Phänomen auf. Wenn ein Makak sah, wie ein Forscher nach einer Erdnuss griff und diese zum Mund führte, zeigte das Affengehirn das gleiche neuronale Entladungsmuster, wie wenn sich der Affe selbst eine Erdnuss nahm und sie zum Mund führte, obwohl sich der Affe in Wirklichkeit überhaupt nicht rührte. Unwillkürlich ahmte der Makak die mentalen Prozesse nach, die er bei einem anderen beobachtete.
    Das war die Geburtsstunde der Theorie von den Spiegelneuronen, die besagt, dass es in unserem Gehirn spezielle Neuronen gibt, die automatisch die mentalen Prozesse der Menschen um uns herum nachvollziehen. Spiegelneuronen sind nicht anders aufgebaut als andere Neuronen; es scheint die Art ihrer Verknüpfung zu sein, die sie dazu befähigt, diese bemerkenswerte, weitreichende Simulationsleistung zu vollbringen.
    In den letzten Jahren

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