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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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    Allabendlich versuchten Harold und seine Eltern, sich emotional aufeinander einzustimmen. Manchmal gelang es ihnen nicht. Rob und Julia konnten sich nicht in Harold einfühlen und wussten nicht, was sie tun sollten, um ihn zu beruhigen. Dann wieder gelang es ihnen, und sie wurden mit Lachen belohnt.
    Auf die Frage, wie Harold entstanden ist, könnte man eine biologische Antwort geben und auf Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt verweisen. Wenn man aber wirklich erklären will, woher das kommt, was Harold – wie jeden anderen Menschen – ausmachte, seine »Essenz«, dann musste man sich die Beziehung zwischen Harold und seinen Eltern ansehen. Und diese Beziehung zeichnete sich durch bestimmte Eigenschaften aus. In dem Maße, wie Harold heranreifte und ein Bewusstsein seiner selbst entwickelte, wurden diese Eigenschaften individualisiert und von ihm übernommen, sodass er auch dann, wenn seine Eltern nicht anwesend waren, darauf zurückgreifen konnte. Das heißt, es ist nicht etwa so, dass wir Menschen uns zuerst entwickeln und anschließend Beziehungen eingehen, sondern wir werden in Beziehungen hineingeboren – mit Eltern und anderen Vorfahren –, und diese Beziehungen machen uns überhaupt erst zu Menschen. Oder, um es anders zu formulieren, ein Gehirn ist etwas, das materiell vorhanden ist. Die Psyche dagegen existiert nur innerhalb eines Netzwerks. Sie ist das Produkt der Wechselwirkungen zwischen Gehirnen, und es ist wichtig, Gehirn und Psyche nicht zu verwechseln.
    Samuel Taylor Coleridge schrieb einst: »Bevor ein bewusstes Selbst existiert, beginnt die Liebe; und die erste Liebe ist die Liebe zu einem anderen. Der Säugling erkennt ein Selbst in der Gestalt seiner Mutter, Jahre bevor er ein Selbst in sich erkennen kann.«
    Coleridge schildert, wie sein eigenes Kind, das damals drei Jahre alt war, eines Nacht aufwachte und seine Mutter anflehte: »Berühr mich, berühr mich nur mit deinem Finger.«
    Die Mutter wunderte sich.
    »Warum?«, fragte sie.
    »Ich bin nicht da«, greinte der Junge. »Berühr mich, Mutter, damit ich vielleicht da bin.« 35

Kapitel 4 Kognitive Karten
    Harold hatte sein Leben damit begonnen, seine Mutter einfach nur mit großen Augen anzusehen. Schon bald aber brach die schäbige Welt des Materialismus herein. Diese Phase begann nicht gleich damit, dass er sich nach einem Porsche und Rolex-Uhren sehnte; zuerst taten es ihm vor allem Streifen an, Streifen und schwarzweiße Schachbrettmuster. Danach entwickelte er einen Faible für Kanten, Kanten von Schachteln, Kanten von Regalen. Er starrte Ränder und Kanten mit den gleichen großen Augen an, mit denen Charles Manson Polizisten anstarrte.
    Nach ein paar Monaten weckten Schachteln, Räder, Rasseln und Schnabeltassen sein Interesse. Er wurde zu einem großen »Gleichmacher«, getrieben durch die feste Überzeugung, dass alle Gegenstände so weit unten wie möglich liegen sollten. Teller flogen von Tischen herunter, Bücher segelten von Regalen herab, und halb aufgebrauchte Spaghettini-Packungen wurden aus ihrem Gefängnis im Speiseschrank befreit und kehrten in ihren natürlichen Lebensraum, auf den Küchenboden, zurück.
    Das Reizende an Harold in dieser Phase war, dass sowohl Psychologie als auch Physik seine Forschungsgebiete waren. Er hatte zwei Hauptbeschäftigungen: zum einen, herauszufinden, wie er von seiner Mutter lernen konnte, und zum anderen, was es mit der Schwerkraft von Gegenständen auf sich hatte. Häufig sah er sich nach Julia um, um sich ihres Schutzes zu versichern, und begab sich dann auf die Suche nach Gegenständen, die er umwerfen konnte. Er besaß das, was Alison Gopnik, Andrew Meltzoff und Patricia Kuhl einen »Erklärungsdrang« nennen. 1 Harold konnte lange Zeit dasitzen und versuchen, unterschiedlich große Kisten ineinander zu stapeln, sobald er es aber geschafft hatte, überkam ihn irgendein archaischer Weitwurf-Impuls, und die Kisten flogen allesamt die Treppe hinunter.
    Er erkundete seine Umgebung aktiv und lernte ständig dazu, aber an diesem Punkt in seinem Leben unterschieden sich seine Denkprozesse noch grundlegend von denen Erwachsener. Kleine Kinder haben offenbar keinen inneren Beobachter, der mit einem Bewusstsein ihrer selbst ausgestattet ist. 2 Die für die sogenannten ausführenden Funktionen zuständigen Areale im Stirnhirn reifen nur langsam, weshalb Harold seine Denkvorgänge noch kaum kontrollieren oder aktiv steuern konnte.
    Das bedeutete, dass er kein Ich in Form eines inneren

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