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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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wurden Spiegelneuronen zu einem der angesagtesten, aber auch umstrittensten neurowissenschaftlichen Forschungsgebiete. Einige Wissenschaftler schreiben den Spiegelneuronen die gleiche Bedeutung für die Neurowissenschaften zu, wie sie die DNS in der Genetik hat. Sie glauben, dass sie unser Verständnis dessen, wie Menschen äußere Erlebnisse innerlich verarbeiten, wie sie voneinander lernen und miteinander kommunizieren, revolutionieren werden. Andere halten die ganze Theorie für extrem überbewertet. Sie weisen darauf hin, dass schon der Terminus »Spiegelneuronen« offenkundig irreführend ist, weil er suggeriere, die Fähigkeit zur Nachahmung wohne den Neuronen selbst inne, während sie in Wirklichkeit den neuronalen Netzwerken im Gehirn zukomme. Weitgehende Einigkeit aber scheint darüber zu bestehen, dass die Gehirne von Affen und Menschen die angeborene Fähigkeit zur Nachahmung besitzen und dass sie auf diese Weise an den mentalen Prozessen anderer teilnehmen können. Marco Iacoboni hat festgestellt, dass Menschen das, was andere erleben, so erleben können, als würde es ihnen selbst widerfahren. 25
    Die Makaken in Parma haben nicht nur die Handlungen, die sie beobachteten, nachgeahmt, sie schienen auch die den Handlungen zugrunde liegenden Intentionen unbewusst zu bewerten. Ihre Spiegelneuronen feuerten heftig, wenn ein Glas in einem Kontext in die Hand genommen wurde, der darauf hindeutete, dass es zum Trinken benutzt werden sollte; sie feuerten viel schwächer, wenn ein leeres Glas in einem Kontext in die Hand genommen wurde, der nahelegte, dass es gereinigt werden sollte. Die Gehirne der Affen zeigten keine Reaktion, wenn die Forscher lediglich so taten, als würden sie eine Rosine aufheben, während die Spiegelneuronen feuerten, wenn die Forscher wirklich eine Rosine aufhoben. 26 Wenn die Affen einem Wissenschaftler dabei zusahen, wie er ein Blatt Papier zerriss, entluden sich ihre Spiegelneuronen in einem bestimmten charakteristischen Muster; das gleiche Entladungsmuster trat auf, wenn sie nur hörten, wie ein Blatt Papier zerrissen wurde. 27 Anders gesagt: Das waren keine bloßen Eins-zu-eins-Imitationen beobachteter physischer Handlungen, sondern die Reaktion des Gehirns auf eine beobachtete Handlung war aufs Engste mit dem Ziel verbunden, das mit der Handlung verfolgt wurde. Wir glauben manchmal, der mentale Prozess der Wahrnehmung einer Handlung sei losgelöst von dem mentalen Prozess der Beurteilung einer Handlung. In diesen Beispielen aber sind die Prozesse der Wahrnehmung und der Beurteilung eng miteinander verbunden. Sie nutzen dieselben Repräsentationssysteme, dieselben neuronalen Netzwerke im Gehirn. 28
    Seit diesen ersten Experimenten in Italien glauben viele Wissenschaftler, Iacoboni eingeschlossen, auch bei Menschen Spiegelneuronen gefunden zu haben. Die Spiegelneuronen helfen uns, die Intention der Handlung eines anderen zu verstehen, auch wenn sie – anders als die Spiegelneuronen von Affen – in der Lage zu sein scheinen, eine Handlung auch dann nachzuahmen, wenn keine Intention erkennbar ist. 29 Das Gehirn einer Frau reagiert mit einem bestimmten Entladungsmuster, wenn sie eine andere Person dabei beobachtet, wie diese mit zwei Fingern ein Weinglas hochhebt – es reagiert anders, wenn sie eine Person dabei beobachtet, wie sie mit zwei Fingern nach einer Zahnbürste greift. Ihr Gehirn reagiert in einer ganz bestimmten Weise, wenn sie einem anderen Menschen beim Sprechen zusieht, und in einer anderen Weise, wenn sie einen schnatternden Affen beobachtet.
    Wenn Menschen eine Verfolgungsjagd in einem Film anschauen, reagiert ihr Gehirn so, als würden sie tatsächlich gejagt, auch wenn die neuronalen Entladungen weniger intensiv sind. Wenn sie einen Pornofilm gucken, reagiert ihr Gehirn so, als hätten sie tatsächlich Sex, wenngleich die neuronale Aktivierung schwächer ist. Jedes Mal, wenn Harold Julia dabei beobachtete, wie sie liebevoll zu ihm heruntersah, ahmte sein Gehirn unwillkürlich die neuronale Aktivität ihres Gehirns nach und lernte dadurch von innen, wie sich Liebe anfühlt und wie sie funktioniert.
    Harold wuchs zu einem leidenschaftlichen Imitator heran, was für ihn in vielfacher Hinsicht hilfreich war. Die Psychologie-Professorin Carol Eckerman von der Duke University führte eine Studie durch, die erkennen lässt, dass ein Kind umso eher fließend sprechen kann, je häufiger es Imitationsspiele spielt. 30 Tanya Chartrand und John Bargh fanden heraus, dass zwei

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