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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Gespür für mathematische Verhältnisse, auch wenn sie natürlich noch nicht zählen können.
    Schon bald vollbringen sie eindrucksvolle Entschlüsselungsleistungen. Meltzoff und Kuhl zeigten fünf Monate alten Säuglingen tonlose Videoaufnahmen von einem Gesicht, das entweder »aah« oder »iih« machte; im Anschluss spielten sie den Babys Tonbandaufnahmen beider Laute vor. 10 Die Babys konnten die Laute den richtigen Gesichtern zuordnen.
    Wenn man einem acht Monate alten Säugling eine Lautfolge wie »la ta ta« oder »mi na na« vorliest, erfasst dieser innerhalb von zwei Minuten das zugrunde liegende Reimschema (abb). Kleine Kinder haben eine unglaublich hochentwickelte Technik, wenn es darum geht, Sprache zu verstehen. Wenn Erwachsene sprechen, fließen die Laute der verschiedenen Wörter in eins. Kleine Kinder hingegen erkennen, dass im Englischen die Lautfolge »pre« mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Lautfolge »ty« kombiniert wird, sodass »pretty« ein eigenes Wort ist. 11 Ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit wird »ba« mit »by« kombiniert, sodass auch »baby« ein eigenes Wort ist. Kinder können diese komplexen Wahrscheinlichkeitsberechnungen durchführen, obwohl ihre bewussten kognitiven Fähigkeiten erst gering entwickelt sind.
    Die Kunst der Verknüpfung
    Harolds Gehirn bestand aus über 100 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen. Als Harold die Welt zu verstehen begann, sprossen aus jedem dieser Neurone Seitenäste, über die Verbindungen zu anderen Neuronen hergestellt wurden. Die Verbindungsstelle zwischen zwei Ausläufern verschiedener Neuronen heißt Synapse. In Harolds Gehirn lief die Verknüpfungsmaschinerie mit rasender Geschwindigkeit ab. Wissenschaftler haben errechnet, dass sich im Gehirn eines Menschen zwischen dem zweiten Monat im Uterus und seinem zweiten Geburtstag 1,8 Millionen Synapsen pro Sekunde bilden. 12 Das Gehirn erzeugt Synapsen, um Informationen zu speichern. Jede Wissenseinheit ist in unserem Gehirn in einem Netzwerk neuronaler Verknüpfungen gespeichert.
    Wenn Harold zwei oder drei Jahre alt ist, hat jede Nervenzelle in seinem Gehirn im Schnitt bis zu 15 000 Verbindungen hergestellt, wobei die ungenutzten allerdings zurückgestutzt werden. Die Gesamtzahl der Synapsen in Harolds Gehirn könnte letztlich in der Größenordnung von 100 Billionen oder 500 Billionen oder auch 1000 Billionen liegen. 13 Wenn Sie eine Vorstellung von der Anzahl möglicher Verknüpfungen zwischen den Zellen in Harolds Gehirn bekommen wollen, vergegenwärtigen Sie sich Folgendes: Allein 60 Neuronen können 10 81 Verbindungen untereinander aufbauen. 14 (Das entspricht einer 1, gefolgt von 81 Nullen.) Die Anzahl der Teilchen im bekannten Universum beläuft sich auf etwa ein Zehntel davon. Jeff Hawkins veranschaulicht die Komplexität des Gehirns mit einem anderen Vergleich: Stellen Sie sich ein mit Spaghetti gefülltes Football-Stadion vor. 15 Nun stellen Sie sich dieses auf Schädelgröße geschrumpft und viel komplizierter vor.
    In ihrem Buch Forschergeist in Windeln beschreiben Gopnik, Meltzoff und Kuhl auf sehr plastische Weise den Prozess der neuronalen Verknüpfung: »Das ist so, als würde plötzlich eine Telefonleitung zwischen Ihrem und dem Nachbarhaus wachsen, wenn Sie Ihren Nachbarn oft genug über Handy angerufen haben. Zuerst versuchen die Zellen überschwänglich, sich mit so vielen anderen Zellen zu verbinden wie nur irgend möglich. Wie ein Telefonwerber rufen sie überall an, in der Hoffnung, dass jemand zu Hause ist und ja sagt. Wenn eine andere Zelle antwortet und das oft genug tut, wird eine dauerhaftere Verbindung eingerichtet.« 16
    Ich möchte hier innehalten, weil dieser Prozess der Synapsenbildung Teil dessen ist, was das eigentliche Wesen von Harold ausmacht. Jahrtausendelang haben sich die Philosophen bemüht, das Selbst des Menschen zu definieren. Wie kommt es, dass sich ein Mensch trotz der Veränderungen, die Tag für Tag und Jahr um Jahr passieren, auf eine nicht zu beschreibende Weise als mit sich selbst identisch erlebt? Was ist es, das all die verschiedenen Gedanken, Handlungen und Emotionen, die im Lauf unseres Lebens durch uns hindurchfließen, zu einer Einheit zusammenfasst? Wo befindet sich unser wahres Ich?
    Ein Teil der Antwort liegt in dem Muster der synaptischen Verbindungen. Wenn ein Apfel vor uns liegt, werden unsere Sinneswahrnehmungen über diesen Apfel (seine Farbe, Form, Textur, Geschmack usw.) in ein integriertes Netzwerk miteinander verschalteter

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