Das soziale Tier
Erzählers besaß. Er konnte sich Erinnerungen nicht willkürlich ins Bewusstsein rufen, und er konnte auch seine früheren Handlungen auf einer durchgehenden Zeitachse nicht mit seinen gegenwärtigen Handlungen in Verbindung bringen. Er konnte sich nicht an frühere Gedanken erinnern oder daran, wie er etwas gelernt hatte. 3 Erst im Alter von 18 Monaten bestand er den Spiegeltest. Wenn man einen Aufkleber an die Stirn eines ausgewachsenen Schimpansen oder Delphins pappt, begreift das Tier, wenn es sich im Spiegel sieht, dass sich der Aufkleber an seiner eigenen Stirn befindet. 4 Harold konnte das nicht. Für ihn befand sich der Aufkleber an der Stirn eines Geschöpfs im Spiegel. Andere konnte er sehr gut erkennen, sich selbst aber noch nicht.
Selbst im Alter von drei Jahren scheinen Kinder das Konzept der bewussten Aufmerksamkeitsfokussierung noch nicht zu verstehen. Sie glauben, dass das Bewusstsein leer sei, solange kein äußerer Gegenstand seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn man Kinder im Vorschulalter fragt, ob der Erwachsene, den sie beobachten, seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ausschnitt einer Szene konzentriere, scheinen sie nicht zu verstehen, was man meint. 5 Wenn man sie fragt, ob sie in der Lage seien, über einen längeren Zeitraum hinweg gar nicht zu denken, bejahen sie dies. In ihrem Buch The Philosophical Baby schreibt Alison Gopnik: »Sie verstehen nicht, dass Gedanken einfach der Logik ihres inneren Erlebens folgen können, statt von außen ausgelöst zu werden.« 6
Gopnik spricht bei Erwachsenen vom Scheinwerfer der Aufmerksamkeit, 7 das heißt, wir richten unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Stellen. Harold dagegen hatte wie alle kleinen Kinder das, was Gopnik als eine »Laternen-Aufmerksamkeit« bezeichnet. Sie erhelle das äußere Umfeld in alle Richtungen, rundum gleichmäßig verteilt. So, als wenn man ein 360°-Panorama vor sich hat. Eine Million verschiedene Dinge erregten Harolds Aufmerksamkeit in einer zufallsabhängigen Bombardierung durch Sinneseindrücke. Da war eine interessante Form! Da war noch eine! Da war Licht! Da war ein Mensch!
Aber selbst diese Beschreibung wird der eigenartigen Funktionsweise von Harolds Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt nicht gerecht. Die Laternen-Metapher suggeriert, dass Harold mit seiner Aufmerksamkeit die Welt »anleuchtete« und beobachtete und dass er als Beobachter irgendwie von dem, was er sah, getrennt war. Aber Harold beobachtete nicht, sondern er tauchte komplett ein in die Welt. Er nahm lebhaften Anteil an allem, was ihm durch Kopf ging.
Die Aufgabe
Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens musste Harold so schnell und so viel lernen wie möglich. Er musste herausfinden, in was für einer Umgebung er lebte, und er musste mentale Karten anfertigen, die es ihm ermöglichen würden, sich zu orientieren. Bewusstes, zielgerichtetes Lernen konnte ihm nicht helfen, diese Aufgabe möglichst schnell zu erledigen, unbewusstes Eintauchen dagegen sehr.
Ein Großteil der Kindheit – des Lebens überhaupt – besteht darin, die Milliarden von Stimuli, die unsortiert und ungefiltert auf uns einströmen, in anspruchsvolle Modelle zu integrieren. Diese werden anschließend dazu benutzt, Ereignisse zu antizipieren, zu interpretieren und durchs Leben zu navigieren. John Bowlby schreibt: »Jede Situation, der wir im Leben begegnen, wird entsprechend unseren Repräsentationsmodellen über die Welt und über uns selbst analysiert und gedeutet. Informationen, die uns über unsere Sinnesorgane erreichen, werden entsprechend diesen Modellen selektiert und interpretiert, ihre Relevanz für uns und unsere Bindungspersonen wird dementsprechend beurteilt und Handlungspläne werden mit diesen Modellen im Kopf konzipiert und ausgeführt.« 8 Die mentalen Karten bestimmen darüber, wie wir wahrnehmen, welche emotionale Bedeutung wir Dingen zuschreiben, was wir wollen, wie wir reagieren und wie gut wir vorhersagen können, was sich als Nächstes ereignen wird.
Die Erstellung kognitiver Karten lief in dieser Phase von Harolds Leben auf Hochtouren. Elizabeth Spelke ist der Ansicht, Kinder würden mit einer Art Kernwissen über die Welt geboren, das ihnen bei der Erstellung der Karten helfe. 9 Babys wissen, dass ein rollender Ball höchstwahrscheinlich weiterrollt und dass er, falls er hinter einen Gegenstand rollt, auf der anderen Seite herauskommen sollte. Im Alter von sechs Monaten können sie zwischen acht und 16 Punkten auf einer Seite unterscheiden. Sie haben ein
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