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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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mit dem eines anderen Gegenstandes zu verschmelzen. Wenn man einem Computer die Aufgabe stellt, die Tür in einem Raum zu finden, muss er sämtliche Winkel in dem Raum berechnen, dann nach bestimmten Formen und Größenverhältnissen suchen, die den Formen und Größenverhältnissen jener Türen entsprechen, die in seine Datenbanken eingegeben wurden. Weil es so viele verschiedene Arten von Türen gibt, fällt es ihm schwer, herauszufinden, was »Tür« bedeutet. Für Harold, wie für jeden anderen Menschen auch, ist das ein Kinderspiel. Wir speichern in unseren Köpfen vage Muster von Räumen ab, und wir wissen ungefähr, wo sich Türen in Räumen befinden, und um sie zu finden, müssen wir normalerweise nicht bewusst nachdenken. 20 Wir sind schlau, weil wir unscharf denken können.
    Wir betrachten die variablen Muster in der Welt und erstellen mentale Schablonen. Sobald wir eine Schablone erschaffen haben, die einem bestimmten Entladungsmuster entspricht, können wir eine ganze Menge damit anstellen. Wir können das mentale Modell des Hundes nehmen und anschließend das mentale Bild von Winston Churchill aufrufen, das wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben, und dann können wir uns ausmalen, dass die Stimme von Winston Churchill aus dem Maul des Hundes kommt. (Es hilft, wenn es sich bei dem Hund um eine Bulldogge handelt und es bereits eine gewisse Überlappung zwischen den neuronalen Mustern gibt, sodass wir sagen können: »Das hier ist so ähnlich wie das da.«)
    Diese Tätigkeit, neuronale Muster miteinander zu kombinieren, wird Fantasie genannt. Sie scheint einfach zu sein, ist tatsächlich aber unglaublich komplex. Sie besteht darin, zwei oder mehr Dinge, die nicht zusammen existieren, herauszugreifen, sie im Geist miteinander zu kombinieren und dadurch ein drittes Objekt zu erschaffen, das noch überhaupt nicht existierte. Gilles Fauconnier und Mark Turner schreiben in ihrem Buch The Way We Think: »Ein funktionierendes Integrationsnetzwerk erfordert die Errichtung mentaler Räume, den Abgleich zwischen den Räumen, die selektive Projektion auf eine Überlagerungskarte, das Lokalisieren gemeinsamer Strukturen, die Retroprojektion auf Inputs, die Rekrutierung neuer Strukturen für die Inputs oder die Überlagerungskarte und die Durchführung vielfältiger Operationen in der Überlagerungskarte selbst.« 21 Und das ist nur der Anfang. Wenn Sie eine Schwäche für unglaublich komplizierte und manchmal unverständliche Theorien haben, lesen Sie die Arbeiten von Wissenschaftlern, welche die genaue Abfolge der Ereignisse beim Fantasieren oder, wie sie es manchmal in ihrem hübschen Fachchinesisch formulieren, bei der bidirektionalen Integration aufzuklären versuchen.
    Jedenfalls machte das Fantasieren Harold unglaublich viel Spaß. Innerhalb von fünf Minuten konnte er ein Tiger, ein Zug, ein Auto, seine Mutter, ein Sturm, ein Gebäude oder eine Ameise sein. Als er vier war, hielt er sich sieben Monate lang für einen Sonnenmenschen, der auf der Sonne zur Welt gekommen sei. Seine Eltern versuchten ihn dazu zu bringen, einzusehen, dass er in Wirklichkeit ein Geschöpf der Erde war, das in einem Krankenhaus geboren worden war, aber er weigerte sich standhaft, in diesem Punkt nachzugeben. Julia und Rob begannen sich schon zu fragen, ob Harold vielleicht an einer Psychose mit Wahnvorstellungen litt.
    Natürlich schwelgte Harold lediglich in seinen Fantasien. Als er ein bisschen älter war, schuf er die H-Welt, ein ganzes Universum (von Wissenschaftlern auch »Parakosmos« genannt), das eigens dazu diente, Harold zu glorifizieren. In der H-Welt trugen alle den Namen Harold, und alle verehrten den König der H-Welt, der Harold selbst war. In der H-Welt aßen die Menschen bestimmte Nahrungsmittel – überwiegend Marshmallows und M&M s –, und sie gingen bestimmten beruflichen Tätigkeiten nach – überwiegend aus dem Bereich des Profisports. Die H-Welt hatte sogar ihre eigene Geschichte, Ereignisse aus früheren Fantasien, die in den Datenbanken abgespeichert wurden, genauso wie die Geschichte in der realen Welt.
    Sein ganzes Leben hindurch war Harold sehr gut darin, mentale Konstrukte miteinander zu verschmelzen, zu verallgemeinern und Geschichten zu erzählen. Wenn man Harolds Fähigkeit zur Informationsverarbeitung gemessen hätte, hätte man festgestellt, dass er geringfügig besser als der Durchschnitt war, aber keineswegs herausragend. Trotzdem besaß er eine erstaunliche Begabung, das Wesentliche vom

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