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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Unwesentlichen zu trennen und mit neuronalen Mustern zu spielen. Das heißt, er war sehr gut darin, Modelle der Wirklichkeit und Modelle möglicher anderer Wirklichkeiten zu entwerfen.
    Manche glauben, die Aktivierung unserer Einbildungskraft sei eine eher einfache kognitive Tätigkeit, weil sie Kindern leichter fällt als Erwachsenen. Tatsächlich ist das Fantasieren jedoch anstrengend und von großem praktischen Nutzen. Fantasievolle Menschen können sagen: »Wenn ich Sie wäre, würde ich dies tun …« Oder sie denken: »Momentan tue ich es auf diese Weise, aber wenn ich eine andere Methode ausprobieren würde, könnte es vielleicht schneller gehen.« Diese Fähigkeit, in Gedanken andere Perspektiven einzunehmen und Alternativen durchzuspielen, ist im wirklichen Leben sehr nützlich.
    Geschichten erzählen
    Im Alter zwischen vier und zehn Jahren warf Harold bei Abendessen immer mal wieder ein absolut passendes Versatzstück aus einem Fernsehdialog oder einem Lied aus der Werbung in die Unterhaltung ein. Schwierige Wörter verwendete er dabei vollkommen treffend, aber wenn man ihn später fragte, was das Wort eigentlich bedeute, konnte er es nicht richtig definieren. Er konnte mit einer Zeile aus irgendeinem uralten Song von Paul McCartney und den Wings herausplatzen, die perfekt in die jeweilige Situation passte. Die Leute fragten ihn dann verblüfft: »Steckt da vielleicht ein kleiner Erwachsener drin?«
    In Wirklichkeit gab es in Harolds Gehirn keinen verborgenen Erwachsenen, sondern nur einen kleinen Muster-Synthesizer. Rob und Julia organisierten sein Leben. Tag für Tag hatten sie dieselben Routinen und dieselben Erwartungen. Diese Gewohnheiten sorgten dafür, dass sich bestimmte fundamentale Strukturen in seinem Gehirn ausbildeten. Und aus dieser Ordnung, Regelmäßigkeit und Disziplin brach Harolds Gehirn ab und an aus, um wilde Abenteuer zu erleben, in denen er die unwahrscheinlichsten Dinge miteinander kombinierte.
    Rob und Julia waren zwar begeistert von seinen imaginativen Fähigkeiten, doch manchmal schien er Schwierigkeiten mit dem wirklichen Leben zu haben. Sie sahen, wie andere Kinder sich friedlich am Einkaufswagen festhielten, während sie die Gänge in einem Supermarkt auf und ab gingen. Harold war da anders. Er zog immer in die eine oder die andere Richtung, zappelte herum und musste festgehalten oder in seine Schranken gewiesen werden. Andere Kinder in seiner Vorschule folgten den Anweisungen der Lehrer, Harold dagegen konnte sich nicht auf eine Aufgabe konzentrieren, sondern sauste immer wieder los und tat, was er wollte. Seine Launen und Anfälle waren ziemlich anstrengend für Rob und Julia, und sie bemühten sich daher, eine gewisse Linie in sein Leben zu bringen. In Restaurants brachte er seine Eltern in Verlegenheit, und in Flugzeugen stellte er ein echtes Problem dar. Bei Elternabenden beklagten sich seine Lehrer, es würde sie zu viel Zeit und Mühe kosten, Harold einigermaßen im Zaum zu halten. Anweisungen schien er gar nicht zu hören, geschweige denn, sie zu befolgen. In Buchhandlungen warf Julia verstohlene Blicke in die Ecke mit den Erziehungsratgebern, im Magen das flaue Gefühl, das Paradebeispiel eines ADHS -Kindes aufzuziehen.
    Eines Abends, Harold war noch im Kindergartenalter, ging Rob an seinem Zimmer vorbei und sah, wie Harold, alle Viere von sich gestreckt und umgeben von kleinen Plastikfiguren, auf dem Boden lag. Links von ihm stand ein Haufen grüner Armeefigürchen, flankiert von einer Ansammlung kleiner Lego-Piraten, während eine Schlange von Hot-Wheels-Modellautos frontal auf sie zuhielt. Harold war mittendrin und tollte herum. Er bewegte eine Darth-Vader-Figur hinter feindlichen Linien und zerschmetterte eine nichtsahnende G.I. -Joe-Puppe. Ein Trupp Soldaten traf auf eine Ansammlung von Hot Wheels und wich zurück. Harold hob und senkte seine Stimme mit dem Hin und Her der Schlacht. Er schilderte fortlaufend, was sich gerade ereignete, und hin und wieder brüllte er: »Die Meute spielt verrückt!«
    Rob stand etwa zehn Minuten lang in der Tür und beobachtete seinen Sohn beim Spielen. Harold warf ihm einen flüchtigen Blick zu und kehrte dann in den Krieg zurück. Einen seiner Stofftier-Affen feuerte er frenetisch an. Einem fünf Zentimeter hohen Stück Plastik sprach er Mut zu. Er tröstete ein gekränktes Auto und schimpfte eine Plüsch-Schildkröte aus.
    In seinen Geschichten gab es Generäle und Soldaten, Mamis und Papis, Zahnärzte und Feuerwehrleute. Schon

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