Das soziale Tier
gestellt«. 26
Frühkindliche Bindungsstile erlaubten auch Vorhersagen über die Qualität (wenn auch nicht die Quantität) von Beziehungen im späteren Leben, insbesondere von Liebesbeziehungen. Sie sagen sehr zuverlässig vorher, ob ein Kind in der Schule zu einem Anführer wird. Sie sagen außerdem vorher, wie selbstbewusst, kontaktfreudig und sozial kompetent jemand als Teenager sein wird.
Kinder reproduzieren im Großen und Ganzen das Verhalten ihrer Eltern, wenn sie selbst Kinder haben. Vierzig Prozent der Eltern, die als Kinder missbraucht wurden, missbrauchten ihre eigenen Kinder, während praktisch alle Mütter , die in ihrer Kindheit Unterstützung und Fürsorge erfahren haben, auch ihre eigenen Kinder hinlänglich gut umsorgten. 27
Sroufe und sein Team beobachteten Kinder mit ihren Eltern, während sie Spiele spielten und bestimmte Rätsel zu lösen versuchten. Zwanzig Jahre später beobachteten sie ihre Probanden, die mittlerweile selbst Eltern geworden waren, wie sie dieselben Spiele mit ihren eigenen Kindern spielten. Manchmal war das Ausmaß der Übereinstimmungen geradezu unheimlich, wie sie in einem Fall beschreiben:
Als Ellis sich Hilfe suchend an seine Mutter wendet, während er sich mit einem Problem abmüht, blickt sie zur Decke und lacht. Als es ihm endlich gelingt, das Problem zu lösen, sagt seine Mutter: »Du warst ja ganz schön stur.« Als Ellis zwanzig Jahre später sieht, wie sein Sohn Carl mit demselben Problem ringt, lehnt er sich zurück, lacht und schüttelt den Kopf. Später verhöhnt er das Kind, indem er so tut, als würde er ein Bonbon aus der Schachtel nehmen, und es dann in die Schachtel fallen lässt, als das Kind herbeieilt und danach greift. Schließlich muss er das Problem für Carl lösen und sagt: »Du hast es nicht geschafft, ich hab’s gelöst. Du bist nicht so schlau wie ich.« 28
Die Komplexität des Lebens
Hätte man Harold als Erwachsenen gefragt, welchen Bindungsstil seine Eltern zu ihm aufgebaut hatten, hätte er geantwortet, dass er sicher gebunden gewesen sei. Er erinnerte sich an die glücklichen Ferien und die engen Beziehungen zu Mami und Papi. Und es stimmt; seine Eltern reagierten meisten einfühlsam auf seine Bedürfnisse, und Harold entwickelte sichere Bindungsmodelle. Harold wuchs zu einem offenen und vertrauensvollen Jungen heran. In dem Wissen, dass er in der Vergangenheit geliebt worden war, ging er davon aus, dass er auch in der Zukunft geliebt werden würde. Er hatte ein ganz enormes Verlangen nach sozialen Interaktionen. Wenn etwas schiefging und er mal wieder in eine seiner Selbsthass-Launen verfiel, zog er sich nicht zurück (nicht allzu sehr), und er fiel auch nicht über andere her (jedenfalls nicht hemmungslos). Er ging offenherzig auf andere Menschen zu und erwartete, dass sie ihn in ihrem Leben willkommen heißen und ihm bei der Lösung seiner Probleme helfen würden. Er sprach mit anderen und bat sie um Hilfe. Er suchte neue Orte und Umgebungen auf, zuversichtlich, dort mühelos Anschluss zu finden.
Aber das wirkliche Leben verläuft niemals vollkommen ideal. Auch Harold litt an verschiedenen Ängsten und hatte bestimmte Bedürfnisse, die seine Eltern nicht verstehen konnten. Sie hatten schlichtweg keine Erfahrung mit einigen der Dinge, die er durchmachte. Es war so, als hätte er eine verborgene seelische Schicht, die ihnen fehlte, Ängste, die sie nicht begreifen konnten, und Ziele, die sie nicht teilten.
Als Harold sieben Jahre alt war, begann er, sich vor Samstagen zu fürchten. Er wachte morgens in dem Wissen auf, dass seine Eltern abends ausgehen würden, wie sie es fast immer taten. Während die Stunden vergingen, sagte er sich, er dürfe nicht weinen, wenn sie fortgingen. Am Nachmittag betete er zu Gott: »Bitte, lieber Gott, lass mich nicht weinen. Bitte lass mich nicht weinen.«
Ob er im Garten Ameisen beobachtete oder oben in seinem Zimmer mit seinen Spielsachen spielte – die düsteren Gedanken waren nie weit weg. Er wusste, dass Eltern abends ausgehen und Jungen sich tapfer und ohne zu weinen damit abzufinden haben. Aber er wusste auch, dass dies eine Regel war, die er nicht befolgen konnte, auch wenn er sich noch so sehr darum bemühte. Woche für Woche brach er in Tränen aus und stürzte ihnen hinterher, wenn sie die Tür zumachten und fortgingen. Jahrelang hatten Babysitter ihn geschnappt, mit ihm gerungen und sich abgemüht, ihn zurückzuhalten.
Seine Eltern ermahnten ihn, er solle tapfer und ein großer Junge
Weitere Kostenlose Bücher