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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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sein. Er kannte und akzeptierte die Regeln, die er befolgen sollte, und er wusste ganz genau, dass regelwidriges Verhalten eine Schande war. Die Welt zerfiel in Jungen, die nicht weinten, wenn ihre Eltern ausgingen, und ihn allein – der nicht tun konnte, was er tun sollte.
    Rob und Julia erprobten verschiedene Strategien, um diese Zusammenbrüche zu vermeiden. Sie erinnerten ihn daran, dass er jeden Wochentag ohne die geringste Angst oder Beklemmung in die Schule gehe. Aber dies änderte nichts an Harolds absoluter Gewissheit, dass er wieder weinen und sich falsch verhalten würde, obwohl er sich verzweifelt darum bemühte, das Richtige zu tun.
    Eines Nachmittags erwischte Rob Harold dabei, wie er heimlich im Haus herumschlich, jede Lampe anschaltete und jede Schranktür zumachte. »Hast du Angst, wenn wir fortgehen?«, fragte er. Natürlich sagte Harold »nein«, was »ja« bedeutete. Rob beschloss, ihn auf einen kleinen Rundgang durchs Haus mitzunehmen, um ihm zu zeigen, dass es hier nichts gab, wovor er sich fürchten musste. Sie gingen in jedes Zimmer hinein, und Rob zeigte ihm, dass da niemand war. Rob sah in den kleinen, leeren Zimmern den eindeutigen Beweis dafür, dass alles in Ordnung war. Harold sah in den riesigen leeren Räumen den eindeutigen Beweis dafür, dass hier irgendein ungreifbares Übel lauerte. »Siehst du? Hier ist nichts, wovor du Angst haben musst«, sagte Rob. Harold wusste, dass Erwachsene so etwas sagten, wenn sie etwas wirklich Furchterregendes sahen. Er nickte bedrückt.
    Julia nahm ihn sich zur Brust und sagte ihm, sie wolle, dass er stark sei. Die Szenen, die er da jeden Samstagabend hinlege, würden allmählich überhandnehmen. Das führte zu einem dieser komischen Missverständnisse, wie sie untrennbar mit der Kindheit verbunden sind. Harold hatte den Ausdruck »überhandnehmen« noch nie gehört, und aus irgendeinem Grund stellte er sich vor, dass jemand ihm, wenn er weinte, zur Strafe die Hände abhacken würde. Er stellte sich einen hochgewachsenen, dünnen Mann in einem langen Mantel mit zotteligem langen Haar vor, dessen stelzenartige Beine wie eine große Schere schnappten. Ein paar Wochen zuvor war er – wieder aus verworrenen Gründen, denen nur ein Kind wirklich folgen kann – zu dem Schluss gelangt, dass er weinte, wenn seine Eltern weggingen, weil er zu schnell aß. Und jetzt sollte er seine Hände verlieren. Er malte sich aus, wie Blut aus seinen Handgelenken spritzte. Er stellte sich vor, wie er versuchte, mit zwei Stümpfen zu essen, und fragte sich, ob er so noch immer zu schnell würde essen können. All dies ging ihm durch den Kopf, als Julia geduldig mit ihm sprach und er ihr versicherte, dass er nicht mehr weinen werde. Er wusste wie ein Pressesprecher, dass es eine offizielle Position gab, die er in der Öffentlichkeit wiederholen musste. Im Innern aber spürte er ganz genau, dass er wieder heulen würde.
    Gegen Abend hörte er den Haartrockner seiner Mutter – ein Zeichen, dass das Ende nah war. Ein einsamer Topf Wasser kochte auf dem Herd, für die Makkaroni mit Käse, die er allein essen würde. Die Babysitterin kam.
    Rob und Julia zogen ihre Mäntel an und gingen zur Tür. Harold stand in der Diele. Das Weinen begann mit einer Reihe von leichten Zuckungen in seiner Brust und seinem Magen. Dann hatte er das Gefühl, dass ein Ruck durch seinen Rumpf ging, als er versuchte, diesen stillzuhalten. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er tat, als wären sie nicht da, bis sie ihn schließlich an der Nase zu kitzeln begannen und sein Kiefer zitterte. Dann brach es aus ihm heraus. Er schluchzte los, die Tränen tropften auf den Boden, und er versuchte nicht länger, sie zu verbergen oder wegzuwischen. Dieses Mal rührte er sich nicht von der Stelle. Er stand einfach allein in der Diele, mit seinen Eltern an der Tür und der Babysitterin hinter ihm, und schlotterte am ganzen Körper.
    »Ich bin böse. Ich bin böse«, dachte er. Ein tiefes Schamgefühl überkam ihn. Er war eine Heulsuse. In dem Gefühlschaos verwechselte er Ursache und Wirkung. Er glaubte, seine Eltern gingen fort, weil er weinte.
    Ein paar Minuten, nachdem sie gegangen waren, holte Harold die Decke von seinem Bett, umgab sich mit seinen Stofftieren und baute aus ihnen eine Burg. Kinder »beseelen« ihre Stofftiere und halten Zwiesprache mit ihnen, so wie Erwachsene Zwiesprache mit Heiligenbildern halten. Jahre später wird er sich an eine glückliche Kindheit erinnern, aber sie war durchwoben von

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