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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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diesem Fall der Rektor und die übrigen Verwaltungskräfte –, die der Täuschung unterlag, die Schule tatsächlich zu leiten. Darunter, neben den Spinden und auf den Fluren, vollzog sich die eigentliche Arbeit des Gehirns – der Austausch von Zettelchen, Speichel, Flirts, Zurückweisungen, Freundschaften, Fehden und Tratsch. Die Highschool hatte etwa 1000 Schüler und daher ungefähr 1000 x 1000 Beziehungen, die den wahren Kern des Lebens an der Schule ausmachten.
    Die Leute von der Schulverwaltung glaubten, die Schule existiere, um einen gesellschaftlich nützlichen Prozess der Informationsübermittlung zu gewährleisten. In Wirklichkeit aber ist die Highschool eine Anstalt der sozialen Auslese. Sie soll jungen Menschen ein Gefühl dafür vermitteln, wo der ihnen angemessene Platz im Gesellschaftsgefüge ist.
    Im Jahr 1954 führte Muzafer Sherif ein berühmtes sozialwissenschaftliches Experiment durch. 1 Er stellte eine homogene Gruppe von 22 Schülern aus Oklahoma zusammen und brachte sie zu einem Zeltplatz im Robbers Cave State Park. Er teilte die elfjährigen Jungen in zwei Gruppen ein, und diese nannten sich selbst die »Klapperschlangen« und die »Adler«. Nachdem sie eine Woche lang getrennt gezeltet hatten, arrangierten die Forscher eine Reihe von Wettkämpfen zwischen den beiden Gruppen. Es kam sofort zu Reibungen zwischen ihnen. Die Klapperschlangen steckten ihre Flagge auf das Gitter »ihres« Baseballfeldes. Die Adler rissen sie herunter und verbrannten sie. Nach einem Tauziehen plünderten die Klapperschlangen die Ferienhütten der Adler, verwüsteten alles und stahlen ein paar Klamotten. Daraufhin bewaffneten sich die Adler mit Stöcken und überfielen die Klapperschlangen. Nach ihrer Rückkehr bereiteten sie sich auf die unvermeidliche Vergeltung vor. Sie steckten Steine in Socken und wollten ihren Feinden damit ins Gesicht schlagen.
    Die beiden Gruppen entwickelten entgegengesetzte Kulturen. Die Klapperschlangen fluchten, also verboten die Adler das Fluchen. Die Klapperschlangen traten als Rowdys auf, also trafen sich die Adler zu gemeinsamen Gebeten. Das Fazit dieses Experiments wurde später durch Dutzende weitere Experimente bestätigt: Menschen neigen dazu, Gruppen zu bilden, sogar auf der Basis völlig beliebiger Merkmale, und wenn Gruppen aufeinandertreffen, kommt es zu Reibungen.
    Auf Harolds Highschool steckte niemand Steine in Socken. Das Leben hier wurde eher von dem allgemeinen Ringen um Bewunderung dominiert. Die Schüler unterteilten sich in die unvermeidlichen Cliquen, und jede Clique hatte ihr eigenes unsichtbares Verhaltensmuster. Klatsch diente dazu, Informationen über die konkreten Verhaltenserwartungen an die Mitglieder einer Clique zu verbreiten und diejenigen sozial zu ächten, die gegen diese Regeln verstießen. Mit Hilfe von Klatsch und Lästereien schreiben Gruppen soziale Normen fest. 2 Die Person, die über andere lästert, gewinnt an Status und Macht, indem sie ihre überlegene Kenntnis der Normen unter Beweis stellt. Die Person, die den Klatsch hört, erhält wertvolle Informationen darüber, wie sie sich in Zukunft verhalten soll.
    Zuerst ging es Harold vor allem darum, ein anerkanntes Mitglied seiner Clique zu sein. Die Pflege sozialer Beziehungen nahm den größten Teil seiner Energien in Anspruch. Nichts fürchtete er mehr, als ausgeschlossen zu werden. Die größte geistige Herausforderung bestand für ihn darin, die sich wandelnden Regeln der Clique zu durchschauen.
    Es würde die Schüler komplett überfordern, wenn sie den ganzen Tag der sozialen Intensität ausgesetzt wären, wie sie in der Cafeteria und auf den Fluren herrscht. Zum Glück sehen die Schulgesetze auch Zeiten des Müßiggangs vor, auch »Unterricht« genannt, in dem Schüler sich mental entspannen und von den Zwängen der sozialen Kategorisierung erholen können. Im Unterschied zu vielen Erwachsenen begreifen Schüler ganz richtig, dass die Sozialisation die intellektuell anspruchsvollste und moralisch wichtigste Leistung der Highschool ist.
    Der Bürgermeister
    Eines Tages hielt Harold in der Mittagspause inne, um sich in der Cafeteria umzusehen. Er würde die Highschool bald hinter sich haben, und er wollte diesen Anblick in sich aufnehmen. Um sich herum sah er die zeitlosen Strukturen des Highschool-Lebens. Solange man denken konnte, hatten die Mitglieder des Highschool-Adels, dem er inzwischen angehörte, ihren Platz an dem Tisch in der Mitte des Raumes. Die Überflieger saßen am Fenster,

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