Das soziale Tier
schmerzhaften Trennungen, Verwirrungen, Missverständnissen, Traumata und Geheimnissen. Aus diesem Grund sind alle Biografien unzulänglich; sie können den inneren Strom der Gefühle und Gedanken nicht angemessen erfassen. Daher ist auch unsere Selbsterkenntnis beschränkt. Nur wenige, außergewöhnliche Menschen sind in der Lage, zu verstehen, wie frühe Erlebnisse sich in mentalen Modellen niedergeschlagen haben. Wenn wir älter werden, erfinden wir Fiktionen und Theorien, um die Rätselhaftigkeit der Vorgänge tief in unserem Innern zu vertuschen, aber in der Kindheit ist die Unerklärlichkeit der Welt noch eine sehr lebhafte, unmittelbare und frische Empfindung, die uns manchmal mit erschreckender Wucht trifft.
Kapitel 6 Lernen
Beliebte, gutaussehende und sportliche Kinder werden gnadenlos misshandelt. Solange sie jung und leicht zu beeindrucken sind, werden sie mit Märchen vom hässlichen Entlein drangsaliert, mit denen sie vermutlich nichts anfangen können. Sie müssen endlose Disney-Filme über sich ergehen lassen, die ihnen erzählen, dass wahre Schönheit im Innern liege. Auf der Highschool bevorzugen die interessantesten Lehrer die strebsamen Schüler, deren Ehrgeiz durch soziale Ressentiments angestachelt wird und die samstagabends Zeit haben, zu Hause herumzuhängen und sich für Miles Davis oder Lou Reed zu interessieren. Das gefällt Erwachsenen. Nachdem sie ihren Abschluss gemacht haben, stehen für die Beliebten und Gutaussehenden bis auf lokale Wetteransager und Moderatoren von Spielshows nur wenige berufliche Vorbilder zur Verfügung, während die Streber allen möglichen modernen Magnaten nacheifern können, von Bill Gates bis Sergey Brin. Denn es steht geschrieben, dass die Letzten die Ersten sein werden und dass der Streber die Erde erben soll.
Und trotzdem trug Harold, der mit einem sonnigen Gemüt gesegnet war, die Bürde seines guten Aussehens und seiner Beliebtheit mit großer Leichtigkeit. Er hatte sehr früh einen Wachstumsschub gehabt, und auf der Junior Highschool war er eine echte Sportskanone gewesen. Die anderen Kinder hatten ihn größenmäßig eingeholt und ihn, was das Können anlangte, sogar überflügelt, aber er spielte trotzdem weiter mit einem Selbstvertrauen, das Hochachtung und Respekt einflößte. Er und seine schmalhüftigen, breitschultrigen Freunde waren berüchtigt für ihre Fähigkeit, einen Mordslärm zu veranstalten. Sie nutzten jede Gelegenheit, um Krach zu machen. Sie grüßten einander lautstark und grölend auf den Korridoren der Highschool. Wenn eine Wasserflasche zur Hand war, spielten sie damit in der Cafeteria ausgelassen Fangen, und alle, die nicht mitspielten, zuckten zusammen, wenn die Flasche dicht an ihnen vorbeiflog. Sie rissen Blowjob-Witze über hübsche Mädchen, was einige Lehrer zu angenehm erregten Zuhörern machte und die Schüler im zweiten Jahr in voyeuristischer Ehrfurcht erstarren ließ. Sie waren unglaublich stolz auf eine Tatsache, die nie ausgesprochen wurde, aber allen klar war: Sie waren die Könige der Schule.
Harolds Beziehungen zu seinen Freunden beinhalteten maximalen Körperkontakt und minimalen Blickkontakt. Sie rangen in einem fort miteinander, schubsten sich und veranstalteten kleine Tapferkeitswettkämpfe. Manchmal hatte es den Anschein, als spönnen sich ganze Freundschaften in dieser Clique um komische Verwendungen des Wortes »Sack«, und genauso obszön äußerten sie sich gegenüber den Mädchen in ihrem Freundeskreis. Harold hatte eine ganze Reihe süßer Freundinnen – nacheinander, wie sich herausstellte, aus Ägypten, dem Iran, Italien und einer alten Protestanten-Familie aus England. Manchmal hatte es den Anschein, als würde er die mehrbändige Kulturgeschichte der Menschheit von Will und Ariel Durant als Leitfaden für seine Verabredungen benutzen.
Und trotzdem mochten ihn die Erwachsenen. Mit seinen Freunden war »Hey, Alter« der übliche Umgangston, aber in Gesellschaft von Eltern oder anderen höflichen Erwachsenen benutzte er eine Sprache und eine Reihe gestelzter Wendungen, die den Anschein erwecken sollten, er stecke nicht mitten in der Pubertät. Im Unterschied zu vielen anderen Jugendlichen konnte er sensibel sein und mehrsilbige Sätze bilden, und manchmal schienen ihn die Kundgebungen, die das Bewusstsein für die globale Erwärmung schärfen sollten und die den Lehrern so wichtig waren, ernsthaft zu berühren.
Harolds Highschool war wie ein Gehirn aufgebaut. Es gab eine Leitungsebene – in
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