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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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unerwartete Verwandtschaft zwischen Fakten, die längst bekannt sind, aber von denen man fälschlicherweise annahm, dass sie nichts miteinander zu tun haben«. 38 Harold musste sich nicht mehr anstrengen, um Konzepte wie thymos auf seine Umwelt anzuwenden; sie wurden schlichtweg zu automatisierten Kategorien in seinem Kopf, die seine Wahrnehmung neuer Situationen prägten.
    Im Kindergarten und in der ersten Klasse hatte es ihn große Mühe gekostet, Lesen zu lernen, aber irgendwann fiel es ihm plötzlich leicht. Mit einem Mal ging es beim Lesen nicht mehr darum, Buchstaben zu Wörtern zusammenzusetzen, er konnte sich jetzt auf die Bedeutung der Wörter konzentrieren. In der Oberstufe hatte er dann in ähnlicher Weise bestimmte Ideen der griechischen Philosophie verinnerlicht, und jetzt konnte er sie ganz automatisch auf sein Leben anwenden.
    Er würde aufs College gehen und pflichtbewusst alle geforderten Lehrveranstaltungen besuchen, aber er wusste auch, dass dieser Unterricht nur die erste Etappe eines langen Prozesses des Wissenserwerbs war. Er würde Abende damit verbringen, spontane Assoziationen zu einem Thema niederzuschreiben. Er würde die Notizzettel mit seinen Gedanken auf dem Boden ordnen. Er würde intensiv nachdenken und sich richtig anstrengen müssen, und dann würde er vielleicht einige wenige Male in seinem Leben, während er unter der Dusche stand oder einkaufen ging, eine zündende Idee haben, die ihm eine völlig neue Perspektive eröffnete. Dies sollte seine Methode sein, um über das rein passive institutionelle Lernen hinauszugehen. Auf diese Weise könnte er sich von überkommenen, eingefahrenen Denkschablonen lösen und Sachverhalte aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten; er könnte verschiedene kognitive Schemata auf neue Situationen anwenden, um so herauszufinden, was funktioniert und was nicht, was zusammenpasst und was nicht und welche neuen Muster sich in der unübersichtlichen, chaotischen Wirklichkeit abzeichnen. Dies würde ihn zu Weisheit und Erfolg führen.

Kapitel 7 Normen
    Erica, die einen Großteil ihres Lebens mit Harold verbringen sollte, hatte völlig andere Ausgangsbedingungen als er. Als sie zehn war, wäre sie beinahe verhaftet worden.
    Sie und ihre Mutter waren in die Wohnung einer Freundin in einer Siedlung mit Sozialwohnungen gezogen. In diesem Viertel gab es eine sogenannte Charter School, die New Hope School, die in einem neuen Gebäude untergebracht war und über ein richtiges Basketballfeld und neue Kunstwerkstätten verfügte. Die Schüler trugen elegante kastanienbraune und graue Uniformen. Erica wollte unbedingt auf diese Schule gehen.
    Ihre Mutter nahm sie mit zum Sozialamt, wo sie über eine Stunde auf dem Flur warteten. Als sie endlich aufgerufen wurden, teilte ihnen die Sachbearbeiterin mit, dass Erica nicht einmal die Voraussetzungen erfülle, um an der Verlosung der freien Plätze dieser Schule teilzunehmen, weil sie nicht offiziell in dem Wohnviertel gemeldet sei.
    Die Sozialarbeiter wurden mit Anträgen, die sie nicht genehmigen konnten, förmlich überschüttet. Um ihren Arbeitsalltag noch einigermaßen geordnet bewerkstelligen zu können, hatten sie sich den Antragstellern gegenüber einen recht schroffen und herrischen Tonfall angewöhnt. Sie blickten starr auf die vor ihnen liegenden Schriftstücke und fertigten die Petenten, die sich bei ihnen die Klinke in die Hand gaben, kurz angebunden ab. Dabei bedienten sie sich jenes juristischen Fachchinesisch, das gewöhnliche Sterbliche nicht verstehen und daher auch nicht hinterfragen. Ihr erster Impuls war immer, die gestellten Anträge erst einmal abzulehnen.
    Die Mütter fühlten sich in dieser Situation äußerst unwohl – in einem Amtszimmer mit schick gekleideten Menschen. Die Hälfte dessen, was die Sachbearbeiter ihnen erklärten, verstanden sie nicht, und es war ihnen peinlich, einzugestehen, wie wenig Ahnung sie von Vorschriften und Gesetzen hatten. Sie setzten ein gleichgültiges oder verdrießliches Gesicht auf, um ihre Anspannung zu kaschieren. Meistens fanden sie sich mit der mündlichen Auskunft des Sachbearbeiters ab und gingen nach Hause. Später erfanden sie irgendeine Geschichte, um ihren Freunden die demütigende Erfahrung beim Sozialamt zu erklären.
    Ericas Mutter folgte dem üblichen Verhaltensmuster. Sie waren vor drei Monaten in dieses Viertel gezogen, aber es stimmte, dass sie hier nicht offiziell gemeldet waren. Es war die Wohnung einer Freundin, und Ericas Mutter

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