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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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der Umweltfaktoren ins Unermessliche wächst, noch bevor man zu der Gewissheit gelangt, dass sich die Umwelteffekte gegenseitig ko-determinieren oder das Ursachenpaket mit den ebenso unzähligen genetischen Effekten interagiert.« 15
    Für Wissenschaftler führen diese Umstände zu dem, was Turkheimer »düstere Aussichten« nennt. Es gibt keine Möglichkeit, die Ursachen menschlicher Verhaltensweisen genau zu bestimmen oder ihr Entstehen zu klären. Wir können lediglich zeigen, wie sich emergente Zustände wie Armut oder die Alleinerziehung von Kindern in etwa auf große Gruppen auswirken. Natürlich lassen sich Korrelationen zwischen einer Variablen und einer anderen nachweisen, und diese Korrelationen sind nützlich, doch es ist schwierig oder gar unmöglich, nachzuweisen, dass A die Ursache von B ist. Die Kausalität bleibt bei den »düsteren Aussichten« verschleiert.
    Die Gründer der Academy zogen daraus die Konsequenz, sich auf ganze Kulturen und nicht auf spezifische Aspekte der Armut zu konzentrieren. Keine spezifische Intervention wird das Leben eines Kindes oder eines Erwachsenen durchgehend verändern. Aber wenn man eine Person in eine neue Kultur, ein andersartiges Netz von Beziehungen integriert, wird sie sich neue Denk- und Verhaltensweisen aneignen. Und zwar in einer Weise, die man weder messen noch genau beschreiben kann. Wenn man diese Person aber mit einer neuen, bereichernden Kultur umgibt, so sollte man dies auf Dauer tun, denn wenn sie in die andere Kultur zurückfällt, gehen die meisten Errungenschaften wieder verloren.
    Die Gründer der Academy wollten nicht nur eine Schule gründen, sie wollten eine Gegenkultur ins Leben rufen. Ihre Schule sollte ein fesselndes, anspruchsvolles Umfeld schaffen, das Kindern aus der Unterschicht Zugang zu einem Leistungsethos bieten würde. Dabei durfte sie mit der Kultur, in der die Kinder lebten, nicht einfach brechen, da die Schüler die Gegenkultur sonst abgelehnt hätten. Aber sie würde großen Wert auf jene Normen, Gepflogenheiten und Botschaften legen, die es den Gründern, Söhnen von Ärzten und Juristen, erlaubt hatten, das College zu besuchen. Ihre Schule würde offen zugeben, dass wir in einer ungleichen, polarisierten Gesellschaft leben. Sie würde unumwunden erklären, dass arme Kinder eine andere institutionelle Unterstützung brauchen als Kinder aus der Mittelschicht.
    Die Schule sollte »elternneutral« sein, was eine höfliche Umschreibung für die Absicht war, jene Kultur auszulöschen, welche die Eltern von Kindern aus prekären Verhältnissen unabsichtlich an diese weitergeben. Der Soziologe James Coleman hat herausgefunden, dass Eltern und das unmittelbare soziale Umfeld einen stärkeren Einfluss auf die Leistungsbereitschaft haben als die Schule. Die Gründer der Academy entschieden, dass ihre Schule nicht nur aus einer Ansammlung von Klassenzimmern bestehen solle, in denen Mathematik und Englisch unterrichtet wird; sie sollte auch eine Nachbarschaft, eine Familie sein. Die Schule, die den beiden vorschwebte, sollte den Kindern beibringen, die Kindheit als eine Leiter zum College zu verstehen, eine Leiter nach oben.
    Das Problem mit der Emergenz besteht darin, dass es in emergenten Systemen sehr schwierig ist, die »eigentliche Ursache« eines Problems aufzuspüren. Das Gute daran ist, dass den negativen Kaskaden, die schlechte Ergebnisse hervorbringen, positive Kaskaden gegenüberstehen, die gute Ergebnisse produzieren. Sobald man eine Reihe positiver kultureller Stimuli hat, kann man eine positive Lawine auslösen, da produktive Einflüsse aufeinander einwirken und sich gegenseitig verstärken.
    Erica hatte sich in den Kopf gesetzt, auf diese Schule zu gehen. Als sie in der achten Klasse war, war sie zu einem hübschen Mädchen herangewachsen, doch dabei hatte sie nichts von ihrer alten Sturheit verloren. Eine tiefe Unzufriedenheit hatte sich in ihr breitgemacht. Sie schrie ihre Mutter an und liebte sie zugleich abgöttisch – ihre Launenhaftigkeit und emotionale Unbeständigkeit konnte niemand mehr nachvollziehen. Auf der Straße stritt sie sich mit Kindern in ihrem Alter, überreagierte häufig und prügelte sich manchmal sogar. In der Schule war sie beides: eine hervorragende Schülerin und ein Problem. Irgendwie hatte sich in ihrem Kopf der Gedanke festgesetzt, dass das Leben ein Kampf sei. Sie stand mit allem Möglichen auf Kriegsfuß und brachte Menschen aus dem geringsten Anlass gegen sich auf.
    Manchmal verhielt sie sich

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