Das soziale Tier
Schule und im Berufsleben erfolgreicher. Diejenigen, bei denen das nicht der Fall war, fanden die Schule unglaublich frustrierend.
Die Kinder, die die Fähigkeit zur Impulskontrolle besaßen, waren im Allgemeinen in geordneten Elternhäusern aufgewachsen. 9 In ihrer Erziehung hatten Verhaltensweisen vorhersehbare Konsequenzen. Sie besaßen ein gewisses Selbstvertrauen, und sie gingen davon aus, dass sie das, was sie anpackten, erfolgreich zu Ende bringen konnten. Kinder, die den Marshmallows nicht widerstehen konnten, kamen oft aus zerrütteten Elternhäusern. Ein bestimmtes Verhalten zog bei ihnen nicht mit der gleichen Folgerichtigkeit bestimmte Konsequenzen nach sich, und sie hatten nicht im gleichen Maße Strategien gelernt, die ihnen halfen, unmittelbaren Verlockungen zu widerstehen.
Aber der entscheidende Befund betraf die Eigenart der erfolgreichen Strategien. Die Kinder mit schlechter Impulskontrolle richteten ihre Aufmerksamkeit direkt auf das Marshmallow. Sie glaubten, wenn sie es direkt ansähen, könnten sie der Verlockung, es zu essen, irgendwie widerstehen. Diejenigen, die warten konnten, lenkten sich von dem Marshmallow ab. Sie taten so, als wäre es nicht da oder als wäre es eigentlich kein Marshmallow. Sie verfügten über Techniken zur Regulierung ihrer Aufmerksamkeit.
Bei späteren Experimenten sagte Mischel den Kindern, sie sollten das Marshmallow in einen mentalen Rahmen einspannen – sich vorstellen, dass das, was sie sahen, das Bild eines Marshmallows sei. Diese Kinder konnten im Schnitt dreimal länger warten als die Kinder, die sich kein Bild vorstellten. 10 Kinder, die aufgefordert wurden, sich das Marshmallow als eine aufgelockerte Wolke vorzustellen, konnten ebenfalls viel länger warten. Mit Hilfe ihrer Fantasie kodierten sie ihre Wahrnehmungen des Marshmallows auf andere Weise. Sie distanzierten sich davon und lösten andere, weniger gefühlsgesteuerte mentale Modelle aus. Die Kinder, die ihre Impulse kontrollieren konnten, aktivierten »kalte« Wahrnehmungsmuster des Marshmallows. Die anderen Kinder aktivierten »heiße« Wahrnehmungsmuster: Sie konnten darin nur die köstliche Verlockung sehen, die es tatsächlich war. Sobald die Kinder in der letzten Gruppe diese »heißen« Netzwerke im Gehirn anschalteten, war es vorbei. Dann gab es keine andere Möglichkeit mehr, als sich das Marshmallow in den Mund zu stopfen.
Aus dem Marshmallow-Experiment lässt sich schlussfolgern, dass Selbstbeherrschung im Grunde nichts mit eiserner Willenskraft, die geheime Leidenschaften bändigt, zu tun hat. Dem Bewusstsein fehlen schlichtweg die Stärke und die Achtsamkeit, um unbewusste Prozesse direkt steuern zu können. Es geht in erster Linie um Auslösemechanismen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt laufen auf unbewusster Ebene viele verschiedene Prozesse ab. Menschen, die über Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin verfügen, entwickeln Gewohnheiten und Strategien, die jene unbewussten Prozesse auslösen, die es ihnen ermöglichen, die Welt auf eine produktive und weitsichtige Weise wahrzunehmen.
Charakter – neu gesehen
Die Willensbildung beim Menschen vollzieht sich in drei Grundschritten. Zuerst nehmen wir eine Situation wahr. Anschließend berechnen wir mit der Kraft unseres Verstandes, ob diese oder jene Handlung in unserem langfristigen Interesse ist. Dann setzen wir unsere Willenskraft ein, um unsere Entscheidung umzusetzen. Im Verlauf der Jahrhunderte kamen verschiedene Charaktertheorien auf und mit ihnen verschiedene praktische Methoden, um jungen Menschen Charakter anzuerziehen. Im 19. Jahrhundert konzentrierten sich die meisten Modelle der Charakterbildung auf den dritten Schritt des Prozesses der Willensbildung, die Willenskraft. Die viktorianischen Moralisten hatten eine beinahe hydraulische Vorstellung von moralisch korrektem Verhalten. Danach sind die Leidenschaften ein wilder Sturzbach, und aufrechte Menschen nutzen ihre eiserne Willenskraft, um sie einzudämmen, zu unterdrücken und in geordnete Bahnen zu lenken.
Im 20. Jahrhundert konzentrierten sich die meisten Modelle der Charakterbildung auf Schritt 2, die vernunftgeleitete Interessenabwägung. Die Moralisten des 20. Jahrhunderts betonten Techniken der Bewusstseinsbildung, um Menschen an die langfristigen Risiken unmoralischen Verhaltens zu erinnern. Sie erinnerten sie daran, dass ungeschützter Sex Krankheiten, ungewollte Schwangerschaften und andere negativen Folgen nach sich ziehen und dass Rauchen zu Krebs führen
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