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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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ältesten Freunde hatten die Werte, die an der Academy vermittelt wurden, abgelehnt. Erica hatte einen bestimmten Weg eingeschlagen, und sie hatten einen anderen eingeschlagen, einen Weg, der sie zu Gangsta-Rap, Tattoos und Bling-Bling führte. Sie hatten – bewusst oder nicht – den Entschluss gefasst, ihre Integrität als Außenseiter zu bewahren. Statt sich an den Mainstream zu verkaufen, lebten sie in Opposition dazu. Diese Kids – weiße, schwarze, braune und gelbe – unterteilten ihre Welt in die Kultur der Weißen, die langweilig, repressiv und uncool war, und die schwarze Rapper-Kultur, die glamourös, sexy, gefährlich und cool war. Ihr Gefühl, sich selbst treu zu bleiben, war ihnen wichtiger als ihr zukünftiges Einkommen (oder sie hatten einfach keine Lust, sich anzustrengen, und suchten nur einen Vorwand). Jedenfalls wurde ihre gegenkulturelle Oppositionshaltung immer stärker. Die Art und Weise, wie sie sich kleideten, wie sie gingen, wie sie saßen, wie sie sich in Gegenwart von Erwachsenen benahmen – all dies trug ihnen zwar die Bewunderung ihrer Peergroup ein, aber es war unvereinbar mit einem erfolgreichen Highschool-Abschluss. Um ihrer Selbstachtung willen waren sie unverschämt zu jedem Erwachsenen, der ihnen helfen wollte. Sie sagten Erica, sie müsse blöd sein, dass sie zu diesem Country Club gehen wolle, wo jeder auf sie herabsehen würde. Sie sagten ihr voraus, dass sie in ihrem geschniegelten rosafarbenen Sweater und ihren khakifarbenen Shorts doch wieder zurückkommen werde in ihr Viertel. Sie wollten reich sein, doch zugleich hassten sie die Reichen. Erica wusste, dass die anderen sie zur Hälfte einfach nur aufziehen wollten, doch sie war dadurch mehr als nur halb aufgebracht.
    In den Wochen vor der Abschlussfeier dachte Erica über ihr Leben nach. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie viele Stunden sie gelernt hatte. Ihre lebhaftesten Erinnerungen bezogen sich darauf, wie sie sich auf der Straße und auf dem Spielplatz herumgetrieben hatte, wie sie mit ihren Freunden herumalberte, zu ihren ersten Verabredungen ging, sich hinter irgendwelchen Lagerhäusern betrank und im Boys & Girls Club zugedröhnt Gummitwist spielte. Sie hatte so viele Stunden damit verbracht, von diesem Ort loszukommen, aber nichtsdestotrotz mochte sie ihn gerade deshalb, weil er so hässlich war.
    Der Sommer nach dem Highschool-Abschluss hätte eine Zeit der Entspannung und des Feierns sein sollen, aber Erica sollte ihn lebenslang als den »Sommer der Authentizität« in Erinnerung behalten. Ihre Freunde nannten sie Streber oder einfach nur »Denver« – wie etwa in »He, da kommt Denver! Kommt sie nicht zu spät zu ihrem Golfspiel?«
    So rauchte sie in diesem Sommer selbstverständlich mehr Gras als je zuvor. Natürlich machte sie auch mit mehr Typen rum, und natürlich hörte sie viel Lil Wayne und mexikanische Musik und tat überhaupt alles, um den Eindruck zu zerstreuen, sie sei weißgewaschen worden. Zu Hause mit ihrer Mutter lief es schlecht. Erica kam erst um drei Uhr nachts nach Hause oder schlief unangekündigt bei anderen Leuten und tauchte am nächsten Tag erst gegen Mittag auf. Ihre Mutter wusste nicht, ob sie überhaupt noch das Recht hatte, ihr Vorschriften zu machen. Das Mädchen war schließlich 18. Aber sie machte sich mehr Sorgen denn je. Ihre Träume für ihre Tochter gerieten plötzlich in Gefahr. Etwas Schreckliches würde passieren können – sie könnte in eine Schießerei geraten oder wegen Drogen verhaftet werden. Es war so, als würde die längst überwunden geglaubte Lebensart der Straße wieder ihre Klauen nach ihr ausstrecken.
    Eines Sonntagnachmittags kam Erica nach Hause und fand ihre Mutter zurechtgemacht und wütend an der Tür stehend. Erica hatte versprochen, frühzeitig nach Hause zu kommen, sodass sie zusammen zu einem Familienpicknick gehen könnten, aber Erica hatte es vergessen. Sie wurde wütend, als ihre Mutter sie daran erinnerte, und stürmte ärgerlich in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. »Zu beschäftigt, um an mich zu denken!«, schrie ihre Mutter. »Aber nicht zu beschäftigt für die Gangbangers!« Erica fragte sich, wo ihre Mutter dieses Wort her hatte.
    An dem Picknick nahmen etwa 20 Tanten, Onkel, Cousins und Großeltern teil. Sie waren hocherfreut, Erica und ihre Mutter zu sehen. Alle umarmten sie. Ein Mann reichte ihr ein Bier, was vorher noch nie der Fall gewesen war. Das Picknick machte Spaß. Die Lauten redeten und redeten. Geschichten wurden

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