Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
Vom Netzwerk:
erzählt. Wie gewöhnlich zog sich Ericas Mutter in den Hintergrund zurück. Sie war die Enttäuschung der Familie, daher wurde sie in eine stille Ecke des Familienlebens verbannt. Trotzdem schien sie alles aufmerksam zu verfolgen und die Gesellschaft in sich aufzusaugen.
    Nach etwa drei Stunden saßen die Älteren um die Tische herum, während die Kinder noch immer herumtobten. Einige der Onkel und Tanten begannen über Denver zu sprechen. Sie erzählten Erica von anderen, gleichaltrigen Jugendlichen, die auf Colleges in der Nähe gingen. Sie erzählten ihr von den chinesischen Sitten und Bräuchen, den Familienbetrieben, den Darlehen, die sich Verwandte wechselseitig gewährten. Sie erzählten ihr von dem, was sie selbst erreicht hatten, und von ihrem eigenen Leben, und während die Minuten vergingen, erhöhten sie den Druck auf Erica. Geh nicht nach Denver. Bleib hier. Hier erwartet dich eine glänzende Zukunft. Sie waren nicht besonders diplomatisch. Sie machten ihr Vorhaltungen und bedrängten sie. »Es ist Zeit, in den Schoß der Familie zurückzukehren«, sagte ein Onkel. Erica blickte auf ihren leeren Teller. Deine Familie – sie steht dir so nah wie niemand sonst. Tränen stiegen ihr in die Augen.
    Dann konnte man vom anderen Ende des Tischs eine leise Stimme hören. »Lasst sie in Ruhe.« Es war ihre Mutter. Alle um den Tisch herum verstummten. Was nun folgte, war nicht einmal eine Rede. Ihre Mutter war so nervös und zugleich so wütend, dass sie nur eine Reihe zusammenhangloser Sätze hervorbrachte. »Sie hat hart gearbeitet … Es ist ihr Traum … Sie hat es sich verdient … Ihr seht sie nicht Nacht für Nacht in ihrem Zimmer. Ihr habt keine Ahnung, wie viel sie überwunden hat, was zu Hause los war.« Schließlich sah sie ihre Verwandten der Reihe nach an. »Noch nie in meinem Leben habe ich mir etwas so sehr gewünscht: Sie soll dorthin gehen und dort studieren.«
    Die kleine Ansprache beendete die Diskussion zwar nicht, die Onkel waren noch immer der Ansicht, dass sich Erica auf dem Holzweg befände, und redeten ihr weiterhin ins Gewissen. Aber das Gleichgewicht der Kräfte in Ericas Kopf hatte sich verschoben. Ihre Mutter hatte sich vor der versammelten Familie für sie eingesetzt. Erica fühlte sich in ihrer Überzeugung bestärkt. Und sobald sie sich etwas wirklich in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie sowieso nicht mehr davon abbringen.
    Der Klub
    Es fiel ihr nicht leicht, wegzugehen. Es ist nie leicht, das Zuhause seiner Kindheit zu verlassen. Im Jahr 1959, als die Schriftstellerin Eva Hoffman 13 war, emigrierte ihre Familie von Polen nach Kanada. Aber Polen lebte in den geheimen Winkeln ihres Herzens fort. »Das Land meiner Kindheit lebt mit einem Vorrang in mir weiter, der eine Form der Liebe ist«, schrieb sie Jahre später. »Es hat mich mit der Sprache, mit Wahrnehmungen, Geräuschen, dem Menschen vertraut gemacht. Es hat mir Farben und die Furchen der Wirklichkeit, meine ersten Lieben geschenkt. Die Absolutheit dieser Lieben lässt sich nicht mehr zurückholen. Keine Geometrie der Landschaft, kein Dunstschleier in der Luft wird in uns so eindringlich weiterleben wie die Landschaften, die wir als Erstes erblickten und denen wir uns ganz, ohne Vorbehalt, hingaben.« 26
    Aber Erica ging fort, und Anfang September wohnte sie in einem Studentenwohnheim in Denver.
    Eliteuniversitäten sind große Produktionsstätten sozialer Ungleichheit. Rein formal stehen sie allen Bewerbern offen, unabhängig vom Einkommen. Sie bieten denjenigen, die sich die Kosten des Studiums nicht leisten können, großzügige Stipendien an. In Wirklichkeit aber ist es so, dass das Auswahlverfahren diejenigen aussortiert, die nicht aus der oberen Mittelschicht stammen. Um die Zulassungsvoraussetzungen zu erfüllen, ist es sehr hilfreich, wenn man in einem bildungsbeflissenen Milieu aufgewachsen ist. Es hilft, wenn im Kreis der Familie viel gelesen wurde, wenn man Privatlehrer hatte, Nachhilfe bekam und auch außerhalb der Schule beaufsichtigt wurde.
    Denver gab Erica die Chance, Kontakte zu Gleichaltrigen aus wohlhabenden Familien zu knüpfen und zu beobachten, wie sie sich untereinander verhielten. Sie lernte, wie sie miteinander umgingen, wie sie sich grüßten, wie sie miteinander schliefen, was ein Typ aus dieser Kultur sagte, wenn er mit einem Mädchen ins Bett wollte, und was ein Mädchen aus dieser Kultur sagte, um ihn abzuwimmeln. Denver war wie ein kulturelles Austauschprogramm. Als Erica nach Denver kam,

Weitere Kostenlose Bücher