Das soziale Tier
ihren chinesischen Verwandten dagegen aß sie die schauerlichsten Sachen. In den verschiedenen Kontexten war sie unterschiedlich alt. In der Familie ihres Vaters verhielt sie sich wie eine sexuell voll ausgereifte Frau. In der Familie ihrer Mutter benahm sie sich noch wie ein Mädchen. Noch Jahre später, nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und dabei war, Karriere zu machen, fiel sie, wenn sie ihre Verwandten besuchte, immer wieder in ihre früheren Mädchen-Rollen zurück. »Ein Mensch hat so viele soziale Ichs, wie es Individuen gibt, die ihn erkennen und die ein Bild von ihm in sich tragen«, schrieb einst William James. 13
Der Zulassungsbescheid aus Denver sorgte in beiden Zweigen ihrer Verwandtschaft für Unruhe. Auf einer Ebene freuten sich all ihre Verwandten sehr darüber, dass sie einen Studienplatz an einer so angesehenen Hochschule ergattert hatte. Aber ihr Stolz war ein besitzergreifender Stolz, und unter der Freude verbargen sich weniger schöne Regungen wie Argwohn, Angst und heimlicher Groll, die erst nach langer Zeit zum Vorschein kamen.
Bereits die Academy hatte Risse in den Beziehungen zwischen ihr und ihren Verwandten entstehen lassen. Die Schule hatte eine Reihe unbewusster Botschaften vermittelt. Du bist dein eigenes Projekt, und dein Ziel im Leben besteht darin, deine Fähigkeiten zu verwirklichen. Du bist selbst für dich verantwortlich. Erfolg ist eine individuelle Leistung. Die Mitglieder ihrer Großfamilien teilten diese Überzeugungen nicht unbedingt.
Ihre mexikanischen Verwandten sahen die bereits vorhandenen Veränderungen ihrer Persönlichkeit mit einigem Argwohn. Wie die meisten Amerikaner mexikanischer Abstammung hatten sich auch Ericas Verwandte an den herkömmlichen amerikanischen Lebensstil angepasst. 68 Prozent der Latinos, die seit 30 Jahren in den Vereinigten Staaten leben, besitzen ein Eigenheim. In der dritten Generation sprechen 60 Prozent der aus Mexiko stammenden Einwanderer zu Hause nur noch Englisch. 14 Aber Ericas Latino-Verwandte hatten wenig Erfahrung mit der Welt der Elite-Hochschulen. Sie vermuteten – wahrscheinlich zu Recht –, dass Erica, wenn sie nach Denver ginge, nie mehr eine von ihnen sein würde.
Sie hatten ein feines Gespür für kulturelle Grenzen. Innerhalb ihrer eigenen Welt hatten sie ihre Traditionen und ihre Kultur, die stark, bereichernd und tiefgründig waren. Jenseits der Grenzen ihrer eigenen Welt schienen die kulturellen Überlieferungen substanzlos und geistig wenig inspirierend zu sein. Weshalb sollte jemand den Wunsch haben, in einem solchen geistigen Vakuum zu leben?
Ericas chinesische Verwandte befürchteten ebenfalls, sie könne in eine haltlose, unmoralische Welt abgleiten. Sie wollten zwar, dass sie es zu etwas brachte, aber durch die Familie, in der Nähe der Familie und im Kreis der Familie.
Sie fingen an, Erica zu bedrängen, ein College in der Nähe zu suchen, eine Hochschule, die nicht so renommiert war wie die in Denver. Erica versuchte ihnen den Unterschied klarzumachen. Sie versuchte ihnen zu erklären, welche Vorteile es für sie hätte, an einer angesehenen Universität zu studieren. Sie schienen es nicht zu verstehen. Auch die Vorfreude darauf, wegzuziehen und einen eigenen Weg einzuschlagen, konnten sie nicht nachvollziehen. Erica begann zu begreifen, dass sie, obwohl sie ihre Verwandten liebte, die Topografie der Wirklichkeit auf etwas andere Weise wahrnahm.
Wissenschaftler wie Shinobu Kitayama von der Universität Kyoto, Hazel Markus von der Stanford University und Richard Nisbett von der University of Michigan haben jahrelang die Unterschiede in den Denk- und Wahrnehmungsmustern von Asiaten und Bewohnern der westlichen Welt untersucht. In einem berühmten Experiment zeigte Nisbett Amerikanern und Japanern Fotos von einem Aquarium und forderte sie auf, zu beschreiben, was sie sahen. 15 Die Amerikaner beschrieben den größten und auffälligsten Fisch in dem Aquarium. Die Japaner hingegen nahmen zu 60 Prozent häufiger Bezug auf den Kontext und Hintergrundelemente des Bildes wie das Wasser, Steine, Blasen und Pflanzen in dem Behälter.
Nisbett gelangte zu dem Schluss, dass sich die westliche Bevölkerung im Allgemeinen auf handelnde Individuen konzentriert, während sich Asiaten eher auf Kontexte und Beziehungen fokussieren. Er behauptet, dass das abendländische Denken mindestens seit der griechischen Antike individuelle Handlungen, Charaktereigenschaften, formale Logik und klar abgegrenzte Kategorien in
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