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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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den Vordergrund stellt. Im asiatischen Denken dagegen stünden Kontext, Beziehungen, Harmonie, Paradoxien, wechselseitige Abhängigkeiten und abstrahlende Einflüsse im Mittelpunkt des Interesses. »Daher ist die Welt für den Asiaten ein komplexer Ort, der aus ineinander übergehenden Substanzen besteht, aus der Perspektive der Ganzheit und nicht der Teile verstanden werden muss und der eher kollektiver als persönlicher Kontrolle unterliegt.« 16
    Dies ist natürlich eine sehr weitgehende Verallgemeinerung, doch Nisbett und viele andere Forscher haben diese These mit triftigen Untersuchungsergebnissen und Feststellungen untermauert. Englisch sprechende Eltern betonen Substantive und Kategorien, wenn sie mit ihren Kindern sprechen. Koreanische Eltern betonen Verben und Beziehungen. 17 Aufgefordert, Videoclips einer vielschichtigen Szene am Flughafen zu beschreiben, führten japanische Studenten viel mehr Hintergrunddetails an als amerikanische Studenten. 18
    Als man amerikanischen Studenten Bilder von einem Huhn, einer Kuh und einer Grasart zeigte und sie aufforderte, die Objekte zu kategorisieren, steckten die meisten das Huhn und die Kuh in dieselbe Kategorie, weil beide Tiere sind. Chinesische Studenten fassten eher die Kuh und das Gras in einer Kategorie zusammen, weil Kühe Gras fressen und daher eine Beziehung zwischen ihnen besteht. 19 Sechsjährige Amerikaner, die gebeten werden, ihren Tagesablauf zu beschreiben, nehmen dreimal häufiger auf sich selbst Bezug als sechsjährige Chinesen. 20
    Auf diesem Forschungsgebiet werden die unterschiedlichsten Experimente durchgeführt. Als amerikanischen Probanden ein Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter vorgeführt wurde, ergriffen sie in der Regel für eine Seite Partei und legten dar, wer ihres Erachtens recht hatte. Chinesische Versuchspersonen hingegen schauten eher auf das Positive an beiden Standpunkten. 21 Wenn man Amerikaner über sich selbst befragt, überzeichnen sie oftmals jene Eigenschaften, die sie von der Masse absetzen, während Asiaten die Merkmale, die sie mit anderen gemeinsam haben, und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten hervorkehren. 22 Wenn sie die Wahl zwischen drei Computern haben – einem mit einem größeren Speicher, einem mit einem schnelleren Prozessor und einem, der bei beiden in der Mitte liegt –, überlegen sich amerikanische Konsumenten im Allgemeinen, welches Merkmal ihnen am wichtigsten ist, und wählen dann den Computer aus, der in dieser Hinsicht die höchste Leistung bringt. 23 Chinesische Verbraucher dagegen wählen den Computer, der in Bezug auf beide Leistungsmerkmalen im mittleren Bereich rangiert.
    Nisbett hat herausgefunden, dass Chinesen und Amerikaner unterschiedliche visuelle Abtastmuster haben. Wenn Amerikaner zum Beispiel die Mona Lisa betrachten, verweilen ihre Blicke länger auf dem Gesicht. Chinesen führen mehr Augenbewegungen zwischen dem im Fokus stehenden Objekt und den Objekten im Hintergrund aus. 24 Auf diese Weise bekommen sie einen ganzheitlicheren Eindruck von der Szene. Allerdings hat man in anderen Studien herausgefunden, dass es Ostasiaten schwerer fällt, einen angsterfüllten von einem überraschten Gesichtsausdruck und ein Gesicht, das Ekel ausdrückt, von einer wütenden Miene zu unterscheiden, weil Ostasiaten sich nicht so lange auf den spezifischen Ausdruck des Mundes konzentrieren. 25
    Ericas mexikanische und chinesische Verwandten hätten nicht zu sagen vermocht, wie sie von ihrer jeweiligen Kultur beeinflusst wurden – abgesehen von vagen Stereotypen –, aber sie spürten, dass die Angehörigen ihrer Gruppe eine für sie typische Denkweise besaßen, dass ihre Denkweise Ausdruck ganz bestimmter Werte war und bestimmte Dinge hervorbrachte. Dies einfach hinter sich zu lassen, hätte eine Art geistigen Tod bedeutet.
    Authentizität
    Verwandte von beiden Seiten bedrängten Erica, eine Hochschule in der Nähe zu besuchen. Jeder Jugendliche aus Harolds Gesellschaftsschicht hätte diese Bitten nur mit einem Achselzucken quittiert; natürlich würde er auf ein Top-College gehen. Für Menschen in Harolds Umgebung war die persönliche Entwicklung das Entscheidende. Für Angehörige von Ericas Kulturen dagegen war die Familie das höchste Gut. Erica fühlte sich diesen Menschen so stark verbunden, dass sie in ihren individuellen Entscheidungen nicht wirklich frei war. Ihre Vorurteile waren ebenfalls in ihr Gehirn eingepflanzt.
    Und dann waren da noch ihre Freunde aus Kindertagen. Viele ihrer

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