Das soziale Tier
kannte sie den Ausdruck zwar noch nicht, aber sie erwarb sich dort das, was der bedeutende Soziologe Pierre Bourdieu »kulturelles Kapital« nannte – die ästhetischen Vorlieben, die Meinungen, das kulturelle Bezugssystem und die Konversationsgepflogenheiten, die es einem erlauben, in die gehobene Gesellschaft aufzusteigen.
Tatsächlich war es nicht der Reichtum der Studenten, der Erica einen Schock versetzte und ihr Selbstbewusstsein erschütterte. Sie konnte durchaus auf den Typen herabsehen, der seinen BMW zu Schrott fuhr und am nächsten Tag von seinen Eltern einen neuen Jaguar vor die Tür gestellt bekam. Es war das Wissen. Auf der Academy hatte sie hart gearbeitet, um sich auf Denver vorzubereiten. Aber einige der Kinder hier hatten sich ihr Leben lang darauf vorbereitet. Sie hatten den Schauplatz der Schlacht von Azincourt besucht. Sie waren nach China gereist und hatten auf der Highschool einen Sommer lang Kinder in Haiti unterrichtet. Sie wussten, wer Lauren Bacall war und wo F. Scott Fitzgerald zur Schule gegangen war. Sie schienen alle Anspielungen zu verstehen, die die Professoren machten. Wenn ein Professor die Namen Mort Sahl oder Tom Lehrer erwähnte, nickten sie wissend mit dem Kopf. Sie verstanden es, Aufsätze auf eine Weise zu strukturieren, die ihr nie beigebracht worden war. Sie sah sich diese jungen Leute an und dachte an ihre Freunde in ihrem Viertel, die noch immer im Einkaufszentrum arbeiteten und sich auf der Straße herumtrieben. Ihre Freunde zu Hause waren nicht einfach nur vier Jahre hinter diesen Studenten in Denver zurück. Sie würden für immer hinter ihnen zurück sein.
Erica besuchte Kurse in Wirtschaftswissenschaften, Politologie und Buchführung. Sie hing in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät herum und hörte sich die Vorträge von Gastdozenten an. Sie dachte sehr nüchtern und praktisch. Aber irgendetwas störte sie an diesen Lehrveranstaltungen. In vielen dieser Kurse wurde Erica von Ökonomen und Politologen unterrichtet, die davon ausgingen, dass sich alle Menschen mehr oder minder gleich verhalten. Wenn man ihnen bestimmte Anreize präsentiert, reagieren sie, unabhängig von ihren kulturellen Unterschieden, auf vorhersagbare, gesetzmäßige und rationale Weise.
Diese Annahme macht die Sozialwissenschaften zu einer Wissenschaft. Wenn das Verhalten nicht von unveränderlichen Gesetzen und Regelmäßigkeiten bestimmt wird, lässt es sich nicht mit quantitativen Modellen erfassen. Die Wissenschaft verliert ihre Fähigkeit, Vorhersagen zu machen, und alles ist nur noch verschwommene, kontextabhängige Subjektivität.
Doch Erica wuchs unter Menschen auf, von denen viele nicht in vorhersagbarer Weise auf Anreize reagierten. Viele ihrer Freunde hatten die Highschool abgebrochen, obwohl genügend Anreize genau auf das Gegenteil abzielten. Viele von ihnen fällten Entscheidungen, die schlichtweg unerklärlich waren, oder sie hatten überhaupt keine Entscheidungen gefällt, weil die Sucht sie im Griff hatte, sie psychisch krank waren oder nur spontanen Impulsen folgten. Außerdem spielten kulturelle Unterschiede in ihrem Leben einfach eine zu große Rolle. Was wirklich zählte, war Ericas Meinung nach das eigene Selbstverständnis. Die Art, wie sich Menschen selbst definierten, hatte einen enormen Einfluss darauf, wie sie sich verhielten und wie sie in unterschiedlichen Situationen reagierten. In den Lehrveranstaltungen schien das alles keine Rolle zu spielen.
Ungeachtet ihrer wohlüberlegten Pläne zog es Erica daher in eine andere akademische Richtung. Sie ließ zwar nicht alle MBA -vorbereitenden Kurse sausen, aber sie ergänzte sie. Es zog sie ausgerechnet zur Anthropologie. Sie wollte Kulturen studieren – ihre Unterschiede und ihre Konflikte.
Auf den ersten Blick handelte es sich um ein Fach, von dem eine ehrgeizige Studentin, die langfristig eine Führungsposition anstrebte, gar nichts hatte. Aber da Erica nun mal Erica war, machte sie daraus einen strategischen Geschäftsplan. Ihr ganzes Leben war davon bestimmt gewesen, dass immer wieder Kulturen zusammenprallten – die mexikanische und die chinesische, die Mittelschicht und die Unterschicht, das Ghetto und die Academy, die Straße und die Universität. Sie wusste bereits, was es bedeutete, verschiedene Kulturen zusammenbringen zu wollen. In einer globalisierten Welt wäre ihr dieses Wissen wahrscheinlich sehr nützlich. Auf dem College würde sie lernen, wieso es manchen Unternehmen gelang, erfolgreiche
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